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Partizipative Projekte aus dem Bereich der Japanologie

12. Januar 2023 von Sabrina Ebenschweiger

Japanische Baseball-Trainer im Anime: was erzählen sie uns von Japan?

Populärkultur ist kein Kinderkram, sondern ein Spiegel der Gesellschaft. Anime, Manga und Videospiele reflektieren soziokulturelle Aspekte und Diskurse. Setzt man sich also mit der Darstellung und den dahinter liegenden Konzepten auseinander, gibt es in Anime so einiges zu entdecken. Ich habe die Trainer des Baseball-Anime Ace of the Diamond unter die Lupe genommen und dabei festgestellt, dass Baseball in Japan nicht nur ein Sport ist. Samurai, Medien und das japanische Schulsportsystem – sie alle kommen im Schmelztiegel Sport-Anime zusammen und verraten dabei so einiges über die japanische Gesellschaft.

Mehr als nur Unterhaltung

„Shōgun! Ich bin hocherfreut!“, ruft der junge Sawamura mit ganzer Kraft und verbeugt sich tief und ehrfurchtsvoll vor Kataoka, der mit ernster Miene auf ihn hinabblickt.

Diese Szene könnte doch glatt aus einem Samurai-Film sein, nicht wahr? Ist sie allerdings nicht, denn Sawamura ist ein 16-jähriger Baseballspieler im Schulsportclub der Seidō Oberschule und Kataoka ist sein Trainer. Genau genommen sind die beiden Figuren aus Ace of the Diamond, einem Baseball-Anime aus dem Jahr 2013. Was hat es damit auf sich, dass Sawamura seinen Trainer mit dem Titel eines Militärführers aus Japans Feudalzeit anspricht? Sehen wir uns das mal genauer an.

Anime sind eine Bühne für gesellschaftliche Themen. Sie sind, gemeinsam mit Manga, Videospielen oder auch Fernsehserien, ein Teil der japanischen Populärkultur. Populär bedeutet hier nicht, dass sie beliebt sind – obwohl das natürlich auch zutrifft – sondern es weist auf den Charakter dieser Medien als Massenkultur hin. Und gerade weil sie für die Massen sind, also sich viele Leute an populärkulturellen Produkten erfreuen, sind sie ein ideales Darstellungs- und Transportmittel für gesellschaftliche Themen und Diskurse.

Schau genau

Anime, Manga und ihre Verwandten sind also weit mehr als nur Unterhaltung. Natürlich muss man dafür schon genauer hinsehen, und sich damit auseinandersetzen, wie Figuren und Geschehen dargestellt werden. Nur so kann man herausfinden, welche Aspekte der japanischen Kultur und Gesellschaft darin widergespiegelt werden. Ebenso wichtig ist es aber auch, dass man über die historischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Japan Bescheid weiß, damit man das Gezeigte richtig interpretieren kann. Wenn man also weiß, dass es die Kinder ehemaliger Samurai im späten 19. Jahrhundert waren, die den Schlagballsport praktizierten und die Ideologie der Samurai auf ihr Baseballspiel übertrugen, dann ist die Bezeichnung Shōgun für den Trainer gar nicht mal mehr so abwegig. Jedoch verbirgt sich weit mehr dahinter als nur der Spaß jugendlicher Samurai.

Samurai Baseball… ?

Sport hat in Japan eine wichtige Rolle, allerdings nicht nur zur körperlichen Ertüchtigung und als kommerzieller Zuschauersport. Er fungiert auch als Träger von Japans historischem Erbe. Hier ist aber nicht die Rede von beleibten Männern, die, nur mit einem Lendentuch (mawashi) bekleidet, in einem Sandring gnadenlos aufeinander krachen. Nein, die Sprache ist von Baseball, dem japanischen Nationalsport. Baseball verkörpert wie keine andere Sportart – zumindest in der Idealvorstellung – die vermeintlichen Werte der Samurai wie Loyalität und Aufopferungsbereitschaft.

Die Geschichte des japanischen Baseball beginnt mit der Einführung der Sportart in Japan in den Jahren 1872/73, kurz nach der Landesöffnung zu Beginn der Meiji-Zeit. Amerikanische Lehrkräfte, die an den damaligen Eliteschulen wie etwa der Ersten Oberschule (Daiichi kōkō) unterrichteten, brachten den Sport ihren japanischen Schülern bei. An diesen Schulen wurden vorrangig Kinder ehemaliger Samurai unterrichtet und sie übertrugen deren Ideologie auf ihr Baseball-Spiel. Zu jener Zeit waren die Spiele zwischen den Schülern der Ersten Oberschule und dem amerikanischen Yokohama Athletic Club besonders prägend für die Popularität des Sports. Aus insgesamt 13 Spielen zwischen 1896 und 1904 verlor die Jugendmannschaft der Daiichi kōkō nur zwei. Die wiederholten Siege wurden auch von den Medien intensiv verfolgt und gefeiert, was zu einer Verbreitung des Sports führte.

Die Japanisierung des Baseballs durch Übertragung der Samurai-Ideologie auf den Sport muss auch vor dem damaligen politischen Hintergrund gesehen werden. Japan bemühte sich zu jener Zeit um eine Neuverhandlung der Ungleichen Verträge und strebte nach einem neuen Nationalbewusstsein und einer Gleichstellung mit westlichen Ländern. Dieses Vorhaben fand einen Widerhall im Baseball. Die Sportart entwickelte sich daher zu einer mit ideologischen Werten aufgeladenen Disziplin. Grundsätzlich handelt es sich bei Samurai Baseball um ein Konstrukt, das je nach Zeit und Akteur zu bestimmten Zwecken instrumentalisiert wurde.

Die Berichterstattung durch die Massenmedien, die ihren eigenen Vorteil aus der wachsenden Popularität von Baseball ziehen wollten, spielt hier eine wichtige Rolle, insbesondere bei der Inszenierung der Nationalen Oberschulen Baseball Meisterschaft. Die Teilnahme am Kōshien – so wird das Turnier genannt – ist auch Sawamuras Traum, den er gemeinsam mit seinen Teamkollegen und seinem Trainer verwirklichen will.

Ace of the Diamond

Schauen wir uns nun etwas genauer an, worum es in Ace of the Diamond eigentlich geht.
Die Geschichte beginnt mit dem Eintritt von Eijun Sawamura in die Seidō Oberschule, die für ihr hervorragendes Baseballteam bekannt ist. Er ist überzeugt, dass sein Können als Pitcher hier Anerkennung findet. Sawamura ist allerdings nicht der einzige Pitcher, der neu an die Schule kommt; Satoru Furuya hat sich ebenfalls entschlossen, dem Seidō Baseballclub beizutreten. Gemeinsam mit ihren Mannschaftskameraden, und insbesondere den beiden Catchern Kazuya Miyuki und Chris Takigawa, kämpfen sie sich von Spiel zu Spiel, mit dem Ziel an der jährlich stattfindenden Nationalen Oberschulen Baseball Meisterschaft, dem Kōshien, teilzunehmen, denn dies ist der Traum der jugendlichen Baseballspieler. Die Teilnahme ist jedoch nur den Besten der Besten bestimmt.

Tesshin Kataoka

Der Trainer, der das Team dabei unterstützt, ist Tesshin Kataoka. Kataoka ist zwar eine wortkarge und strenge Person, dennoch sorgt er sich sehr um sein Team und dessen sportliche Entwicklung. Am wichtigsten ist ihm dabei der Teamzusammenhalt, denn nur mit vereinten Kräften, so meint er, kann es Seidō zum Kōshien schaffen, und nur als Team können sie das Turnier auch gewinnen. Alle Trainer, die im Anime gezeigt werden, sehen das Kōshien als den Höhepunkt des Erfolgs einer Schulmannschaft. Als Zuseher verfolgen wir die einzelnen Teams auf dem mühsamen Weg zu diesem Turnier, der von Tränen, Verzweiflung, Hoffnung, äußerster Anstrengung, aber auch Hingabe zum Sport gezeichnet ist. Die immense Bedeutung, die das Kōshien für die jungen Spieler im Anime hat, kommt nicht von ungefähr. Denn auch im realen Leben verkörpert dieses Turnier die Krone des Oberschulen-Baseballs. Warum aber hat es einen solch hohen Stellenwert? Darauf will ich nun etwas näher eingehen.

Das Kōshien – ein Spielfeld, das die Welt bedeutet

Sawamura kam gerade von der Mittelschule und hatte daher noch nie die Möglichkeit, am Kōshien teilzunehmen. Er möchte jedoch mehr über das Turnier wissen und begibt sich auf eine kleine Begriffsrecherche. Voller Stolz teilt er seinem Teamkollegen, Kuramochi, seine neuen Erkenntnisse mit: „Hör mal, Kuramochi. Wusstest du das?! Der Namensgeber des Stadions war Mizaki Shōzō. Das Stadion wurde im 13. Jahr der Taishō Periode [1924] fertig gebaut, was gleichzeitig auch das 1. Jahr des 60-Jahre-Zyklus [甲子 kōshi] ist. Darum wurde es Kōshien [甲子園] genannt.“

Das Hanshin Kōshien Baseball Stadion ©HANSHIN KOSHIEN STADIUM

Was Sawamura seinem Teamkollegen nicht mitteilt ist, dass das Stadion, genau genommen, Hanshin Kōshien Baseball Stadion (阪神甲子園球場) heißt. Auftraggeber für die Errichtung des Stadions in der Stadt Nishinomiya, nahe Ōsaka, war das japanische Zeitungsunternehmen Asahi Shimbun. Der Name Hanshin kommt von jenem Unternehmen, das den Bau mitfinanziert hat: die Hanshin Electric Railway, einer japanischen privaten Eisenbahngesellschaft. Diese kontrollierte die Zugverbindung zum und vom Stadion und konnte somit, wie auch die Asahi, Profit aus der wachsenden Beliebtheit des Sports und den steigenden Besucherzahlen beim jährlich stattfindenden Oberschulen-Turnier schlagen.

Sehnsuchtsort

Für Spieler und Trainer stehen jedoch nicht kommerzielle Gründe im Vordergrund.

Am Vorabend des alles entscheidenden Auswahlspiels sitzt Kataoka in dem kleinen, an das Spielfeld angrenzenden Besprechungsraum und blickt durch das Fenster in den dunklen Nachthimmel. Am Firmament thront, in ehrfurchtgebietender Größe, ein schimmernder Mond. „Es ist mir egal, ob wir nur knapp oder durch Glück gewinnen. Mir ist alles recht. Ich will die Jungs einfach nur zum Kōshien bringen.“

Keine Szene verkörpert das sehnsüchtige Verlangen nach der Teilnahme an der Meisterschaft so sehr wie diese poetische Inszenierung von Kataokas Perspektive. Sie betont, dass das Kōshien nicht irgendein Turnier ist, sondern der absolute Höhepunkt des japanischen Oberschulen-Baseballs.

Das Turnier ist aber nicht nur Sehnsuchtsort der jugendlichen Sportler und ihrer Trainer*innen, sondern auch der Zuseher*innen. Im 47.508 Personen fassenden Stadion werden jedes Jahr für zwei Wochen im August, in glühender Sommerhitze, idealisierte nationale Werte, verkörpert durch den Eifer und Einsatz der jugendlichen Spieler, medial zelebriert. Das Kōshien, als Standort und Wettbewerb untrennbar miteinander verbunden, versinnbildlicht dadurch auch den Aufstieg und Einfluss der Massenmedien, der Infrastrukturentwicklung und symbolisiert heutzutage den japanischen Geist des Nicht-Aufgebens und des Durchhaltens.

100 Jahre Kōshien

Für das 100-jährige Jubiläum des Kōshien im Jahr 2024 wurde ein (Werbe-)Video veröffentlicht, das die Symbolik des Stadions und des Turniers, und den Zusammenhang von Populärkultur und Realität zeigt. Unter dem Titel „Koshien Forever“ wird eine Montage spannender Wettkampfszenen aus den unterschiedlichsten Baseballmanga – Ace of the Diamond ist auch dabei – gezeigt, während eine helle Frauenstimme im Refrain beschwingt „Ganbatte“ („Gib alles“) singt.

Ein neuer Trainer

Nicht zuletzt ist auch der Status der Schule an die Teilnahme am Kōshien geknüpft. Daher sucht Seidōs Schuldirektor, nachdem der Mannschaft der Einzug in das Turnier nicht geglückt ist, nach einem neuen Trainer. Die Wahl fällt auf Hiromitsu Ochiai, der dem Team die Teilnahme an der Meisterschaft ermöglichen soll. Ochiai und Kataoka vertreten jedoch komplett unterschiedliche Trainingsansätze und Erfolgsstrategien. Während für Kataoka das Team über allem steht, möchte Ochiai nur einen einzigen Spieler, den Pitcher Furuya, fördern. Ochiais Ansicht nach könne Furuya als Starspieler die Teilnahme am Kōshien sichern. Ein Konflikt zwischen den beiden Trainern scheint unausweichlich.


Team vs. Pitcher

Die Spannungen zwischen einem hingebungsvollen Einsatz für das Team und einem individualistischen, gar egoistischen Verhalten wird in anderen Sport-Anime als intra- oder interpersoneller Konflikt unter den Athlet*innen dargestellt. In Ace of the Diamond werden die Sportler jedoch nicht damit belastet, denn hier findet die Auseinandersetzung zwischen den beiden Trainern, Kataoka und Ochiai, statt. Eine Szene bringt diese Gegensätze besonders deutlich zum Ausdruck: Es geht dabei – wie könnte es anders sein – um die alles bedeutende Teilnahme am Kōshien.

Am Ende des Trainingstages treffen Ochiai und Kataoka im Trainerzimmer aufeinander. Ochiai, der entspannt auf der Couch sitzt, schlägt Kataoka vor, sich auf die Ausbildung und Weiterentwicklung des Pitchers Furuya zu konzentrieren: „Wenn ich Haupttrainer wäre, würde ich das Herbstturnier Furuya anvertrauen. Egal ob er gut oder schlecht spielt, ich würde ihn jedes Spiel zur Gänze pitchen lassen. Für einen Sieg ist es ja ausreichend, wenn er als Eckpfeiler des Teams Erfahrung sammeln kann. Das ist der schnellste Weg zum Kōshien.“ Kataoka steht erstarrt neben der Couch und blickt schweigend auf Ochiai hinab. Als er ihm schließlich antwortet, stimmt er diesem zwar zu, dass ein starker Pitcher im Baseball wohl wichtig sei. „Aber“, erwidert er mit einem bedrohlichen Blick auf sein Gegenüber, „es sind die Spieler, die um die Teilnahme am Kōshien kämpfen und ich werde das Team nicht einem einzelnen Spieler opfern!“


Die Moral von der Geschicht’?

Wie geht das Ganze aus? Tatsächlich endet das Gespräch hier und das Thema wird von den Trainern auch nicht mehr aufgegriffen – Kataoka hat jedoch das letzte Wort. Um zu erfahren, wer im Recht ist, muss man sich ansehen, was die anderen Figuren von den beiden Trainern halten. Die Spieler lieben und respektieren Kataoka. Er sorgt sich um sie, er trainiert mit ihnen und sie wünschen sich nichts sehnlicher, als gemeinsam mit ihm am Kōshien teilnehmen zu können. Auch seine Kollegen loben seinen passionierten Einsatz. Ochiais Einstellung hingegen wird von Kataoka und seinen Kollegen kritisiert, und auch die Spieler begegnen dem neuen Trainer mit Misstrauen. Es ist also klar: Kataoka ist der Held und somit ist seine Ansicht die richtige – zumindest in der Animewelt.

In Ace of the Diamond fällt das Kräftemessen von Team vs. Individuum zwar zugunsten des Teams aus, dennoch hat sich die Darstellung dieser Werte im Laufe der Zeit verändert und deutet auf eine zunehmende Wichtigkeit des Individualismus hin.

„Ganz schön teuflisch…“

Ochiai nimmt sich kein Blatt vor den Mund und kritisiert nicht nur Kataokas Taktiken, sondern auch seine Trainingsmethoden. 

Die beiden Trainer beobachten die Jungen beim Pitch- und Schlagtraining. Es ist August, die zirpenden Grillen und Ochiais Outfit – er trägt FlipFlops – deuten auf die Sommerhitze hin. „Ganz schön teuflisch…“, kommentiert er trocken, dass Kataoka seine Schützlinge während der Mittagshitze in praller Sonne trainieren lässt. Dieser hat jedoch seine Gründe und erklärt: „Wir können nur in dieser Jahreszeit Erfahrungen mit der Sommerhitze machen. Darum lasse ich sie jetzt hart trainieren. Egal wie talentiert sie sind, die Spieler sind nur Oberschüler und sie sind diejenigen, denen der Frust in Erinnerung bleibt, wenn sie im Wettkampf nicht alles geben können.“ Die jugendlichen Sportler beschweren sich jedenfalls nicht; sie geben alles im Training. Und nicht nur in der Sommerhitze, auch spät abends schwingen sie noch die Baseballschläger.


„Diese Schule will meinen Sohn zerstören!“

Ochiai ist aber nicht der Einzige, der Trainingseinstellungen kritisiert. Chris’ Vater – ein ehemaliger amerikanischer Baseballspieler – ist geschockt, als er sieht, dass sein Sohn an einem Freundschaftsspiel teilnimmt.

Chris befindet sich eigentlich noch im Rehabilitationstraining, da er sich durch Überbeanspruchung einen Muskelriss in der Schulter zugezogen hat. Dieser ist zwar fast, aber eben noch nicht ganz verheilt, trotzdem wollte der junge Sportler unbedingt mitspielen, und Kataoka hat es ihm erlaubt. Chris’ Vater ist außer sich: „Chris!? Warum spielst du mit?! Diese Schule will meinen Sohn wirklich zerstören!“ Chris antwortet mit einem Lächeln, denn er ist einfach nur froh, dass sein Vater gekommen ist, um ihm beim Spiel zuzusehen. Um seine Schulter macht er sich scheinbar keine Gedanken. Sein Vater sieht das jedoch anders und kritisierte bereits vor diesem Ereignis die japanische Trainingsmentalität: „Noch immer gibt es diese willensbasierte Sportmentalität in Japan, dass man jugendliche Pitcher, deren Körper noch nicht voll entwickelt sind, in der Sommerhitze in mehreren Spielen hintereinander pitchen lässt – in Amerika wäre sowas undenkbar!“


Trainieren wie ein Samurai

Tatsächlich lassen sich einige wissenschaftliche Arbeiten finden, in denen überbordendes Training oder etwa die Mentalität des Nicht-Aufgebens mit Verletzungen im Jugendsport in Zusammenhang gebracht werden. Verletzungen, insbesondere an Ellbogen und Schulter, bedingt durch die wiederholten Wurf- und Schlagbewegungen, sind im Baseball auch bei Jugendlichen häufig. Diese Erkenntnisse beschränken sich jedoch nicht ausschließlich auf Japan, denn auch in den USA erleiden jugendliche Baseballspieler*innen Verletzungen durch Überbeanspruchung, Zusammenstöße oder Balltreffer.

Diese Szenen heben vor allem einen Aspekt hervor, nämlich die Gegenüberstellung von japanisch-traditionellem und westlich-wissenschaftlichem Training: In Japan trainiert man wie ein Samurai, mit hingebungsvoller Aufopferungsbereitschaft für das Team und blindem Gehorsam gegenüber einem autoritären Trainer. In den USA trainiert man nach wissenschaftlichen Methoden. Natürlich entspricht das nicht ganz der Realität. Viel eher zeigt dieser Ausschnitt den Konflikt zwischen einer sich hartnäckig haltenden Samurai-Ideologie und aktuellen soziokulturellen Entwicklungen.

Im Anime nimmt die Geschichte ein gutes Ende, auch im Sinne der japanisch-traditionellen Sportmentalität. Denn schlussendlich erinnert sich Chris’ Vater an seine Zeit als aktiver Spieler und daran, dass auch er ohne Rücksicht auf Verluste trainiert hat, und wünscht seinem Sohn dann doch viel Erfolg im Spiel.

Baseball ist… mehr als nur Baseball

William W. Kelly[1], ein Anthropologe, der sich unter anderem intensiv mit Baseball in Japan auseinandergesetzt hat, beschreibt die Bedeutung der Sportart in Japan folgendermaßen:

„Baseball ist seit langem in das Bildungssystem, die Massenmedien, die Unternehmensstrukturen und die patriotischen Gefühle des modernen Japans eingebettet. In diesem Jahrhundert war es durchwegs ein bedeutender Schauplatz, an dem sich Schulpädagogik, Unternehmensziele, Medienkonstruktionen, Genderverhältnisse und Nationalismus kreuzen. Kurz gesagt, es öffnet den Blick auf und ist Schmelztiegel für die Ideologien und Institutionen des modernen Japans.“ [übersetzt aus Kelly (1998:103)]

Baseball wird auch in Sport-Anime sehr häufig dargestellt, was angesichts der Popularität nicht verwunderlich ist. Gerade weil Baseball in Japan eben nicht nur ein Sport ist, sondern mit allerlei ideologischen Werten assoziiert wird – von Bildung, über die Samurai, bis hin zum Kōshien – eignet sich die Sportart gut, um diese idealisierten Qualitäten in ihrer Reinform im fiktiven Setting eines Anime wiederzugeben. Dieses Genre nennt man übrigens supokon – ein Akronym aus den Begriffen supōtsu (Sport) und konjō (Mut, Willensstärke, Entschlossenheit). Diese Art von Manga, und später auch Anime, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg populär. Darin wurden entsprechend den Anforderungen an die Bevölkerung und vor allem an die Jugend jener Zeit solche Werte besonders hervorgehoben.

In Ace of the Diamond werden diese Idealisierungen durchaus kritisiert – in Form von Ochiai und Chris’ Vater. Auch wenn die Kritik nur vorsichtig angesprochen, und in Folge widerrufen oder negativ bewertet wird, so lässt sich doch erkennen, dass gewisse traditionelle Konzepte hinterfragt werden können.

[1] Kelly, William W., 1998, „Blood and guts in Japanese professional baseball“,
Sepp Linhart und Sabine Frühstück (Hg.): The culture of Japan as seen through its leisure. Albany: SUNY Press, 95–111.


„Das Wichtigste ist… “

Kataoka und Ochiai sind nicht die einzigen Trainer, die im Anime vorkommen. Insgesamt habe ich zehn Trainer in meiner Arbeit analysiert, und diese reflektieren, wie erwähnt, nicht nur Idealvorstellungen, sondern widerspiegeln auch aktuelle Diskurse. Da wäre der gewiefte Raizō Todoroki, der ein Auge auf den monetären Nutzen einer Teilnahme am Kōshien hat, denn erfolgreiche Spiele(r) bringen Geld. Und tatsächlich kommen (unerlaubte) finanzielle Zuwendungen, etwa durch professionelle Vereine an Schulen oder Spieler, durchaus vor.

Der leidenschaftliche Junichi Chiba möchte Kataokas Mannschaft besiegen, um dadurch einen höheren Status für sein Team und seine Schule zu erlangen. Und der gutherzige Lehrer Sanae Kikukawa hat zwar keine Ahnung von Baseball, unterstützt seine Schützlinge dennoch bestmöglich bei der Erfüllung ihres Traums einer Kōshien-Teilnahme. Kikukawa verkörpert auch die Mehrzahl der Betreuer*innen bzw. Trainer *innen von Schulsportclubs. Denn viele verfügen über keine spezifische Trainerausbildung und haben auch keine Erfahrung in der Sportart. Dafür fühlen sie sich umso mehr für die moralische Erziehung der Schüler*innen verantwortlich – sie fungieren sozusagen als Lebenstrainer*innen.

Auch Kataoka bemüht sich um das moralische Wachstum seiner jugendlichen Athleten, und erläutert Todoroki in einem Gespräch seine Ansichten: „Entscheidend ist, wie sich die Spieler als Mensch entwickeln. Das ist das Wichtigste, worauf wir als Trainer achten sollten.“

Die zehn Trainer geben einen spannenden Einblick in das Schulsportsystem Japans, mit all seinen Komplexitäten, Stärken und Schwachstellen, Normen und Werten. Schaut man also etwas genauer und wagt dabei einen Blick über den Tellerrand der fiktiven Animewelt, dann erzählen uns die Trainer in Ace of the Diamond tatsächlich so einiges über Japan.

Bildmaterial ©Yūji Terajima, Kodansha,
[Ace of Diamond] Production Committee, TV TOKYO

Pressetext (verfasst im November 2022):

Was haben Bushido, Baseball, Schullehrer und Anime gemeinsam? So einiges!
Beim Begriff Bushido (auf Japanisch bushidō, übersetzt der „Weg des Kriegers“) denken wir zuallererst an Samurai. Die Ideologie des Bushido ist im Westen vor allem durch das gleichnamige Buch von Nitobe Inazō bekannt geworden. Ihm zufolge verkörpert der Samurai Werte wie Loyalität, Aufopferungsbereitschaft und bedingungslose Hingabe. Obwohl es sich dabei um eine romantisch-verklärte Darstellung der damaligen Kriegerelite handelt, hat dieses Bild sowohl im Westen als auch in Japan Fuß gefasst und wurde auch auf den Sport übertragen, insbesondere auf Baseball. Nicht umsonst heißt die japanische Baseball Nationalmannschaft „Samurai Japan“. Aber wie kam es dazu?

Baseball gilt heute als japanischer Nationalsport. Er wurde 1872/73, nach der Landesöffnung in der Meiji-Zeit, von amerikanischen Lehrkräften nach Japan gebracht und an den damaligen Eliteschulen gespielt. Die Jugendlichen, die dort zur Schule gingen, waren Nachfahren ehemaliger Samurai und übertrugen deren Ideologie auf ihr Baseball-Spiel. Die Ausübung dieses Sports wurde dadurch mit diesen ‚traditionellen‘ Werten versehen. Im Laufe der Zeit formten sich aus den Sportclubs der Eliteschulen die heutigen extracurriculären Schulsportclubs (undō bukatsudō); die Werte der Samurai blieben in ihnen erhalten. Undō bukatsudō ist ein Konzept der Sportausübung, das es in Österreich so nicht gibt, denn diese Sportclubs sind keine privaten Vereine, sondern direkt an eine Schule gebunden. Das heißt, dass Trainings und Wettkämpfe an der jeweiligen Schule und zusätzlich zum regulären Sportunterricht stattfinden. Das Training wird jedoch häufig nicht von speziell ausgebildeten Trainer*innen durchgeführt, sondern von engagierten Lehrkräften organisiert. Dabei geht es in diesen Schulsportclubs nicht nur um die Ausübung des Sports, sondern um ein „Lernen fürs Leben“. Die Betreuer*innen der bukatsudō sind somit auch „Lebenstrainer“, da sie den jungen Sportler*innen Verantwortungsbewusstsein, Anstand und andere für das Erwachsenenleben wichtige moralische Werte mit auf den Weg geben. 

Auch die Trainer*innen, die in Sportanime dargestellt werden, vermitteln durch ihre Charakterzüge und durch ihr Verhalten bestimmte gesellschaftliche Werte. Diese sind allerdings nicht nur an die Sportler*innen in der fiktiven Animewelt gerichtet, sondern auch an die jugendlichen Zuseher*innen. Sieht man sich die Darstellung der Figuren und ihr Verhalten genauer an, und bezieht dabei auch die dahinterliegenden kulturellen Aspekte mit ein, verrät ein Anime so einiges über die japanische Kultur, Gesellschaft und deren Wandel. 

Interessant ist, dass Baseball in den Sportanime die am häufigsten dargestellte Sportart ist; der Anime Ace of the Diamond ist einer davon. In meiner Bachelor-Arbeit habe ich die zehn darin vorkommenden Trainer genau unter die Lupe genommen und dabei herausgefunden, wie eng Bushido, Baseball und Schulsport zusammenhängen und was das über japanische Normen und Werte und deren Wandel aussagt.

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