japan
projects

Partizipative Projekte aus dem Bereich der Japanologie

5. Januar 2023 von Melissa Gatterbauer

Bulimie im Anime „18if“ – Essstörungen in Japan

Anime und Essstörungen? Eine Kombination, die man nicht allzu häufig vorfindet. Doch „18if“ wagt sich an diese komplexe Thematik. Dieser Anime versucht widerzuspiegeln, wie Bulimie für Erkrankte eine mentale und körperliche Belastung darstellt. Eine Filmanalyse soll einen genaueren Einblick liefern: Mittels ausgewählter Sequenzen wird die daran erkrankte Protagonistin Airi untersucht. Aspekte, wie Verhaltensweisen und Denkvorgänge, kommen so zum Vorschein. Dadurch sollen Parallelen zu Japans Frauen mit dieser Krankheit aufgezeigt werden.


Coverbild des Anime „18if“ ©GONZO

Der Anime „18if“

Produziert vom Animationsstudio GONZO wurde dieses Werk im Jahr 2017 zum ersten Mal ausgestrahlt. Dieser Anime basiert auf der Media-Franchise The Art of 18, wozu auch mehrere Handy-Puzzle Spiele gehören.
Themen wie Depressionen und Mobbing finden hier jeweils innerhalb einer Episode einen Schauplatz. Mithilfe von dreizehn Episoden werden den Zuseher*innen so im audiovisuellen Format gesellschaftlich-heikle Themen nähergebracht. Interessant für uns ist jedoch vor allem die vierte Episode, wo die Bulimie thematisiert wird.

Dornröschen neu interpretiert

Der Plot im ganzen Anime verfolgt ein Narrativ mit surrealen Elementen: Mehrere junge Frauen befällt das „Dornröschen-Syndrom“ – gefangen in ihrem Schlaf. Konträr zum originalen Märchen liegt hier der Fokus auf der Traumwelt. Das Traum-Ebenbild manifestiert sich als „Hexe“ (warum die Produzenten hier genau „Hexen“ einbauen, ist ungewiss. Wahrscheinlich, um zu untermalen, dass diese Frauen sich in ihrem Traum böswillig verhalten). All das ausgelöst durch seelische Leiden in ihrer Realität. Jedoch gibt es einen Helden: Ein junger Mann namens Haruto ist der Retter dieser Mädchen. Und er soll sie aus dem Dornröschen-Schlaf befreien. Wie macht er das? Selbst gefangen in der Welt der Träume hüpft er durch Portale von Traum zu Traum; von Hexe zu Hexe. Anfänglich versteht er nicht, warum er dort gefangen ist, doch begreift der junge Mann schnell, dass es mit den Problemen der Hexen zu tun hat. Dabei hilft er ihnen Traumata zu ergründen und ihren Lebenssinn wiederzufinden. Dadurch erwachen diese aus ihrem ewigen Schlaf und beginnen ein neues Leben.

Die vierte Episode von „18if“ nimmt sich der „Hexe der Völlerei“ an. Eine junge Frau namens Airi, erkrankt an Bulimie. Tätig als Hobby-Model und Teilzeit-Köchin in einem Café. Alleingelassen von ihrem Ex-Freund, weil sie nicht dünn genug ist. Immerhin gibt es viel schlankere Mädchen in der Model-Branche. Ihr Selbstbild ist zerstört und in Einzelteile zerbrochen. Eine Lösung muss her: sofort. Was wäre mit einer strikteren Diät? Aber der Hunger wird immer stärker und stärker, worauf riesige Essattacken für Airi die Folge sind. Doch wie das Geschehene wieder ungeschehen machen? Ganz einfach: Alles wieder raus! Selbst-induziertes Erbrechen scheint der einzige Weg eine ungewollte Gewichtszunahme zu vermeiden. Während ihrer Ess-Brech-Attacken verfällt sie in einen Trance-ähnlichen Zustand. Die Folge ist ein Erwachen als Hexe in ihrer Traumwelt.

Piktogramm Bulimie ©Melissa Gatterbauer

Bulimie: Wenn Essen das Leben bestimmt

Die Bulimie (oder auch lat.: bulimia nervosa) ist eine Form von Essstörung. Auf Japanisch ist sie besser bekannt als shinkeisei taishokushō (z. Dt. „psychisch bedingtes Völlerei-Symptom“). Essstörungen sind typischerweise durch abnormales Essverhalten charakterisiert. Krampfhafte Verhaltens- und Denkweisen sind oftmals Teil davon. Geprägt durch ein Streben nach einem möglichst geringen Körpergewicht. Dies hat zumeist starke, mentale Leiden zufolge.

Die österreichische Psychologin Astrid Kathrein hat sich mit dieser Krankheit näher auseinandergesetzt: Bulimie zeichnet sich durch regelmäßige Ess-Brechattacken aus. Betroffene sind vor allem junge Frauen. Eine Diagnose erfolgt typischerweise, wenn drei Monate lang pro Woche zumindest zwei solcher Essanfälle einsetzen. Mit diesem Anfall geht eine starke Euphorie einher: Zucker- und fetthaltige Nahrung setzen enorme Mengen an glücksbringenden Hormonen frei. Es kommt einem Suchtverhalten gleich, aus dem man nur schwer auszubrechen vermag. Sind die oftmals tausenden Kalorien erstmals verschlungen, setzt die Stressreaktion ein. Eine Gewichtszunahme ist in diesem Moment die größte Angst. Durch das sogenannte purging („Reinigung“) soll das Essen, zumeist durch selbstinduziertes Erbrechen, wieder aus dem Körper verfrachtet werden. Alle Kalorien kann man dadurch aber nicht loswerden. Dies erklärt auch das häufige Normalgewicht von Bulimikerinnen.

Perfektionismus ist ein schlechter Wegbegleiter

Laut Kathrein sind die Ursachen einer Bulimie meist komplexer Natur: Einerseits kann Essen die innere Leere füllen. Man ist gelangweilt, hat nichts, auf das man sich freut; Essen ist hier das nächstbeste Mittel. Andererseits wirkt es auch Stress, bedingt durch z.B. neue Lebensabschnitte, kritische Familienverhältnisse, oder auch eine Unzufriedenheit mit dem eignen Körper entgegen.

Kathrein spricht hier von einem Teufelskreis: Durch Stress ausgelöste negative Emotionen werden mit Essen unterdrückt, das wiederum verstärkt das Gefühl des Kontrollverlustes. Dadurch entstehen erneut negative Gefühle und der Kreislauf beginnt von vorne. Das wirkliche Ausmaß der Essattacke ist oft nicht von Belang. Tatsache ist für Betroffene, dass es passiert ist. Für sie gibt es nur Perfektion oder Scheitern. Nur Schwarz oder Weiß. Und genau diese Einstellung ebnet den Weg in die Essstörung. Erkrankte fühlen sich dabei oft beschämt, neigen zur Verheimlichung. Eine stetige Angst, andere könnten eine potenzielle Gewichtszunahme erkennen. Auch will man dem gemeinsamen Essen entgehen, um zusätzliche Kalorien vermeiden zu können. Tag ein, Tag aus drehen sich die Gedanken nur um Kalorien. Am Ende steht die komplette, soziale Abschottung.


Japans Frauen als Gefangene ihrer Kindheit

Gesellschaftliche Erwartungen sind der Wegbereiter für Essstörungen in Japan: Dazu gehören unter anderem ein gezügelter Appetit und eine dünne Figur. Beispielsweise das japanische Schulmädchen (shōjo) ist ein Symbol für kindliches Aussehen – in der Populärkultur vermarktet und fetischiert. Außerdem steht in Japan das Kollektiv über dem Individuum: Gibt es also persönliche Probleme, werden diese vor Freunden und Familie lieber verheimlicht. Wer Probleme hat, setzt nicht auf ein emphatisches Umfeld, sondern muss mit Gefühlen anders umgehen. Essstörungen können eine Folge daraus sein. Auch geht das Erwachsenwerden mit vielen Verpflichtungen und Sorgen einher. Hobbies und Freizeit muss man an den Nagel hängen. Junge Japanerinnen tendieren darauf meist zur Rebellion und sehnen sich zurück nach einer unbeschwerten Kindheit.

Die Kernelemente japanischer Bulimikerinnen


Bild des Bucheinbands Femininity, self-harm and eating disorders in japan: Navigating contradiction in narrative and visual culture (Autor: Gitte Marianne Hansen) ©Kondō Miwa

Die dänische Japanologin Gitte Marianne Hansen befasst sich in ihrer Forschung mit Japanischer Gender-Kultur und Literatur, mit Schwerpunkt auf Weiblichkeit in Japan. Dies wird in Verbindung mit Essstörungen in ihrem Werk Femininity, self-harm and eating disorders in japan: Navigating contradiction in narrative and visual culture thematisiert. Dort hat Hansen fünf Kernelemente der Denkweisen von japanischen Bulimikerinnen bestimmt: Onset, feeling dirty, over-performance, escape und the alien invader. Onset („Beginn“) beschreibt negative Stimulanzen, die das jeweilige selbstzerstörerische Routine-Verhalten auslösen. Feeling dirty („sich dreckig fühlen“) die Empfindung der Unreinheit. Essen wird als etwas Schmutziges angesehen. Je dicker man also ist, desto schmutziger ist man. Demnach auch die Formel: Je dünner, desto sauberer. Häufig kommen auch äußerliche Hygienemaßnahmen hinzu, wie eine sofortige Dusche oder Zähneputzen. Over-Performance („Mehrleistung“) meint den Drang zum Perfektionismus. Man überbeansprucht sich selbst und die Erwartungen an den eigenen Körper. Es entstehen Konfliktsituationen, wo der Körper sich nicht den Vorstellungen fügt. Betroffene tendieren so mehr und mehr dazu, das Problem geheim zu halten, und sich zurückzuziehen (escape). The alien invader beschreibt grob ausgedrückt den Körper selbst als Kerker. In diesem ist das Selbst gefangen. Somit wird der eigene Leib als Feind, bzw. als etwas Fremdes (Alien) angesehen. Man fühlt sich nicht wie sich selbst und muss das Fremde kontrollieren

Filmanalyse: Unterbewusstsein vs. Realität

Als Teil meiner Forschung habe ich die Darstellung der Bulimie im Anime „18if“ untersucht, mit der Methode der Filmanalyse – basierend auf dem Werk von Werner Faulstich Grundkurs Filmanalyse (2013). Der Anime hat eine interessante Herangehensweise: Es werden nicht nur konkrete Verhaltensweisen der Protagonistin gezeigt, sondern auch unterbewusste Gedankengänge visualisiert. So erhalten wir einen besonders tiefen Einblick in das Leben einer Japanischen Bulimikerin. Daraufhin bot es sich am ehesten an, zwei Sequenzen zu analysieren. Eine in Airis Realität, und eine in ihrer Traumwelt. Die Analyse selbst basiert auf den vier W-Fragen: Was, wer, wie und wozu. Mithilfe der Ergebnisse lassen sich anschließend Vergleiche zu Bulimikerinnen im realen Kontext Japans ziehen.

Sequenz 1 – Dornröschen eine Bulimikerin?

! TRIGGERWARNUNG !

In diesem Abschnitt wird eine Ess-Brechattacke graphisch und schriftlich im Detail veranschaulicht.

Erste Sequenz (00:01:07 – 00:01:19) der vierten Episode aus „18if“ ©GONZO

Es ist bereits Abend. Das letzte Treffen mit ihrem Ex-Freund hat Airi nun hinter sich gebracht. Nun muss sie ihn nicht mehr sehen. Oder besser gesagt, er muss sie nicht mehr sehen. Immerhin war er derjenige, der Schluss gemacht hat. Seine letzten Worte scheinen die junge Frau nicht loszulassen: „Du bist nicht dünn genug.“ Diese Gedanken begleiten die Protagonistin den restlichen Abend lang. Welche Konsequenzen das hat, veranschaulicht diese Sequenz.

Alles ist dunkel. Bis auf das Licht des offenen Kühlschranks. Das Licht fällt auf zahlreiche, leere Fast-Food Verpackungen. Alles liegt verstreut am Boden. Die Küche ist menschenleer. Gezeigt werden Müllsäcke, die voll mit Essensresten sind. Die Reste der vorangegangenen Essattacke. Begleitet wird diese Szene von melancholischer, langsamer Klaviermusik. Was folgt, ist das purging.


Die Hauptfigur Airi der vierten Episode aus „18if“ ©GONZO

Wir befinden uns nun im Badezimmer. Das Kühlschranklicht vom Nebenraum ist die einzige, schwache Lichtquelle. Was wir hier nun zu Gesicht bekommen, ist die Hauptfigur Airi. Der Wasserhahn läuft. Damit sollen Geräusche unterdrückt werden. Die Brechlaute darf immerhin niemand hören. Airi sitzt vor der Toilette. Abgestützt mit einem Arm am Klodeckel. Der Kopf Richtung Kloschüssel geneigt, leicht auf- und ab bewegend. Airi schiebt sich die Finger in den Rachen und löst den Brechreiz aus. Schwach ist ein schweres Schluchzen zu hören – man hört eine Flüssigkeit ins Klo fallen. Ihr Gesicht ist überströmt mit Tränen. Reste von Erbrochenem verunzieren ihren Mund. Die Augen sind unter ihrem Haar versteckt. Sie atmet schwer mit geöffnetem Mund. In der nächsten Szene ist Airis Spiegelbild als Hexe zu sehen. Umgedreht sichtbar im Klowasser. Die Klaviermusik wird ausgeblendet. Nochmals werden wir die Protagonistin als Hexe genauer in der zweiten Sequenz zu Gesicht bekommen.

Sequenz 2 – Keine Traumfigur? Dann ab ins Donut-Königreich!

Zweite Sequenz (00:16:51 – 00:17:40) der vierten Episode aus „18if“ ©GONZO
Deutsche Untertitel ©Melissa Gatterbauer

Der nächste Schauplatz ist in Airis Traumwelt angesiedelt. Besser ausgedrückt, im Reich ihres Unterbewusstseins, wo sie als „Hexe der Völlerei“ agiert. Doch sie ist nicht allein, Haruto befindet sich in ihrer Gefangenschaft. Gefesselt an einem Donut ist er umgeben von einer chaotischen, farbenfrohen Welt: Der Himmel erstrahl in blau, gelb und rosa. Im Hintergrund sind mehrere Fahrbahnen zu sehen, die auf hohen Säulen platziert sind. Die Straßenlaternen haben ungewöhnliche Färbungen, wie pink und neon-gelb. Unter den Figuren erstreckt sich ein rot-schwarzer Weg im Karo-Muster. Verkehrt hängende Laternen in Regenbogen-Farben hängen vom Himmel herab. Mehrere weiße Glitzerpunkte verleihen der Atmosphäre ein magisches Flair. Die Hexe schwebt auf ihrem Zuckerstangen-ähnlichen Zauberstab (wie auf einem Hexenbesen) wenige Meter vor Harutos Gesicht. Ihr Aussehen gleicht dem eines kleinen Kindes: Ein kunterbuntes Kleid, violettes Haar und dazu rote Wangen.


Airi als „Hexe der Völlerei“ ©GONZO

Haruto bittet die Hexe, ihn von seinen Fesseln zu lösen. Verstörend wirkt darauf ihre Frage, ob sie ihn essen dürfe. „Hörst du mir überhaupt zu?“, erwidert Haruto verwirrt. Generell scheint die Protagonistin seine Worte nicht eindeutig wahrzunehmen und redet an ihm vorbei. „Ich bin die Königin des Donut-Landes“, antwortet sie lediglich heiter. Ihre Gedanken drehen sich nur um Donuts. Um mehr Süßigkeiten. All das würde sie gerne essen. Auch überhaupt kein Problem, denn hier in ihrem Reich muss sie sich um die gefürchtete Gewichtszunahme keine Sorgen machen. Glaubt sie zumindest am Anfang. Stetig schwindet ihr Lächeln und ihre Stimme macht einen zunehmend bedrückten Eindruck.

Es setzt nun schwere, langsame Klaviermusik ein, die sich über den restlichen Verlauf dieser Sequenz hin fortsetzt. Mittels verschiedenster Rückblenden kommen die Erinnerungen an die Realität zurück. Nun ist sich die Hexe nicht mehr sicher, ob sie alles essen kann, was sie will. Ihre Traumwelt bleibt ein Traum. Eine Wunschvorstellung ihres Unterbewusstseins. Wo ist denn nur ihre unbeschwerte Kindheit? Sie vermisst die Zeit, wo sie die leckeren Speisen ihrer Großmutter genießen konnte. Doch diese einstige Glückseligkeit lässt auch ihre Traumwelt scheinbar nicht zu. „Liebe“, erwähnt die Hexe unter all den aufgezählten Süßspeisen. Ist es also Liebe, das sie will? Liebe von ihrem Ex-Freund? Oder ihrer Großmutter?

Das Bild fängt an zu wackeln und scheint den Zusammenbruch der Welt anzudeuten. Plötzlich richtet die Hexe ihren Blick auf. Sie schaut mit panischen Gesichtszügen Haruto entgegen und schreit, ob sie ihn essen darf.

Anime als Spiegel der Gesellschaft? Ein Rückblick

Interessant anzumerken ist zu Beginn, dass in der ersten Sequenz nicht der gesamte Ess-Brech-Zyklus in diesem Abschnitt veranschaulicht ist, sondern nur indirekte Andeutungen auf den Essanfall in der Küche. Die purging-Phase hingegen wird visuell präzise wiedergegeben. Vielleicht, um mehr Zeit der eigentlich schmerzvollen Phase widmen zu können.


Küche nach Essattacke (00:01:12) aus „18if“ ©GONZO

Einige von Hansens beschriebenen Kernelementen sind hier wiederzufinden: Das onset ist ganz klar ihr Ex-Freund, der sie aufgrund ihrer Figur verlassen hat. Eine Verletzung ihres Selbstbewusstseins. Das geht zudem einher mit dem alien invader-Punkt. Anstatt das Essen in ihrem Magen verweilen zu lassen, setzt sie ihren Körper lieber den Strapazen durch die hochgewürgte Magensäure aus. Man kann also daraus den Schluss ziehen, dass Airi ihren Körper als etwas sieht, das kontrolliert werden muss. Auch könnte der feeling-dirty Aspekt hier eine Rolle spielen. Denn nicht nur Kontrolle, sondern auch das Gefühl der Unreinheit könnte ihren Drang zum purging mitverursacht haben. In puncto escape sticht hier ganz klar ihr Ebenbild als Hexe hervor. Die kindliche Form der Hexe ist ein Hinweis auf die Sehnsucht nach ihrer Kindheit – diese Sehnsucht empfinden auch oft Japans Bulimikerinnen. Der geöffnete Kühlschrank könnte ebenfalls eine indirekte Anspielung sein: Das einzige Licht fällt nur schwach durch den Spalt des geöffneten Kühlschranks. Der restliche Raum hingegen ist beinahe stockdunkel. Essen scheint das einzige Glück zu sein, dass Airi ihren Schmerz vergessen lässt. Demnach ist der Kühlschrank, wo besagtes Glück zu finden ist, im übertragenen Sinn die einzige Lichtquelle in ihrem Leben. Auch das dunkle Badezimmer, in dem sie allein ist, steht für ihren katastrophalen, mentalen Zustand. Die Tränen und ihr schwerer Atem untermalen dies zusätzlich.

Essen als Ersatz für „Liebe“

In der zweiten Sequenz werden die Gedankengänge einer Bulimikerin intensiv visualisiert. Die kunterbunte Traumwelt sticht visuell als kompletter Gegenpol zu der düsteren Atmosphäre der ersten Sequenz hervor. Dies soll jedoch die Bulimie nicht verherrlichen, sondern Airis Wunsch nach einem unbeschwerten Leben verdeutlichen. Kein Verkehr auf den Fahrbahnen. Keine Menschenseele bis auf die Hexe. Ein Abbild ihrer sozialen Abstinenz? Durchaus könnte man das als Parallele zu Hansens Kernelement escape sehen. Süßspeisen, vorrangig Donuts, scheinen ihre Vorliebe zu sein. In Airis Realität (siehe erste Sequenz) waren es jedoch salzige Fast-Food Speisen, die in ihrer Küche vorzufinden waren. Vielleicht auch als Untermalung des Erwachsenen-Kind Gegenpols. Realität und Traum. Zudem könnte das Wort „Liebe“ Raum für mehrere Anspielungen bieten: Zuerst würde man wohl auf ihren Ex-Freund schließen, der der Auslöser ihrer Bulimie gewesen sein dürfte. Oder „Liebe“ als der Wunsch nach einem generell sozialen sicheren Netz? Freund*innen, die zuhören und mitfühlen können? Ein Wunsch, der durch Schamgefühle und soziale Abschottung unerfüllt bleibt.

Ein Fazit

Abschließend kann man sagen, dass diese Episode im Anime „18if“ belegt, was sich auch in der Literatur über Bulimie in Japan findet. Es finden nicht alle Aspekte der Sekundärliteratur Platz im Anime. Aber man sollte bedenken, dass es sich nur um eine Episode mit ca. 24 Minuten Zeitumfang handelt. Essstörungen sind eine komplexe Angelegenheit. Diese Krankheit kurz und bündig dazustellen, ist kein leichtes Unterfangen. Am Ende geht klar hervor, dass die Bulimie eine ernstzunehmende mentale Erkrankung ist.

Körperliche Schäden, die durch die Bulimie verursacht werden, wurden hingegen zur Gänze weggelassen. Diese Folge befasst sich also vorrangig mit der Psyche. Meiner Ansicht nach war der Traum als Schauplatz besonders geeignet. Der Traum ist ein Spiegel unseres Unterbewusstseins. Visuell heben die gewählten Farbkombinationen in jeder Sequenz jeweils unterschiedliche Bereiche hervor: Dunkle Farben stehen für Airis mentalen Schmerz und Abneigung gegenüber ihrem Körper. Knallige Farben zeigen ihr Bedürfnis nach einer unbeschwerten Kindheit. Vor allem durch den Einsatz von Dialogen in der zweiten Sequenz erhalten wir einen tiefen Einblick in ihre Gedanken. In die Gedanken japanischer Bulimikerinnen. Der Drang zur Verheimlichung. Der Schrei nach Hilfe. Der Wunsch nach Freiheit. All das in einer Frage: „Darf ich dich essen?“

Pressetext (verfasst im November 2022):

Die Bulimie (jap.: shinkeisei taishokushō) ist ein Wegbereiter für ein Dasein voller Angst, Depressionen und sozialer Abstinenz. Erkrankte wissen oftmals keinen Ausweg. Bulimie gilt nach wie vor als Tabuthema in Japan und kommt in der japanischen Populärkultur daher kaum vor.  Doch es gibt auch Ausnahmen: Wie ich in meiner wissenschaftlichen Arbeit aufzeigen konnte, kommt das Thema im japanischen Anime „18if“ des Animationsstudios GONZO vor. Dieser nimmt sich vieler, verschiedenster gesellschaftlicher Problematiken an (Depression, Mobbing, etc.) und visualisiert diese jeweils in einer Episode. Mittels Filmanalyse wurden zunächst zwei aussagekräftige Szenen objektiv festgehalten. Dann habe ich durch eine tiefgründige Analyse versucht, versteckte Botschaften zu entdecken.

Eine Szene widmete sich hierbei konkret der Figur Airi – eine weibliche Bulimikerin, die Protagonistin. Aufgrund der Bemängelung ihres Ex-Freundes, dass sie nicht dünn genug sei, entwickelt Airi ein kritisches Selbstbild. Trotz ihrer schlanken Figur sieht sie sich selbst als ungenügend grazil und ertränkt ihren Kummer in ausgearteten Essattacken: Ein leergeräumter Kühlschrank mit Massen an Verpackungen am Boden zu nächtlicher Stunde und tausende Kalorien verschlungen innerhalb eines kurzen Zeitraums. Und dann, die „Reinigung“. Als Versuch, durch die aufgenommene Kalorienzufuhr nicht zuzunehmen, wird kurzerhand durch einen Finger im Hals der Brechreiz ausgelöst und das Geschehene im Badezimmer ungeschehen gemacht. Im Film wird Airi mit Tränen in den Augen in einem schlecht beleuchteten Raum dargestellt. Melancholische Klavierklänge untermalen zudem ihren mental schlechten Zustand. 

Im Gegensatz dazu wird Airi in der zweiten Szene als „Hexe der Völlerei“ in Form eines kunterbunt angezogenen Kleinkindes gezeigt. Ihre Traumwelt in ebenfalls farbenfrohem Design ist voll von Essen und kalorienreichen Speisen. Mit einem Lächeln im Gesicht erfreut sie sich der Tatsache, dass sie essen kann, was sie will – eine Andeutung auf ihre Kindheit, wo sie unbesorgt die Gerichte ihrer Großmutter genoss. In Erinnerung an die zuvor beschriebene Szene verzieht sich jedoch ihr froher Blick zu einem ausdruckslosen Starren. Nun scheint sich Airi nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee sei zu essen, was man will. Daraufhin geht die verspielte Hintergrundmusik in eine dramatische Musik über und die Welt wird durch ein Erdbeben erschüttert.

Die Parallelen zu japanischen Bulimikerinnen im realen Kontext (beschrieben in wissenschaftlicher Sekundärliteratur) sind eindeutig: Der Wunsch, einen kindlichen Körper beibehalten zu können (um die sorgenlose Vergangenheit zu rekonstruieren), die Fetischierung junger Frauen mit kindlich-jugendlichem Körper in der Gesellschaft; die Vorgabe, nicht zu viel zu essen und so die Schlemmerei im Geheimen abhalten zu müssen, etc. Bulimie generell findet hier besonderen Ausdruck durch die typische kalorienreiche Essensaufnahme und die häufig angewandte Form der „Wiedergutmachung“ durch Erbrechen. 

Als Ergebnis dieser Forschung konnte ich feststellen, dass es der nur ca. 24 Minuten dauernden Episode gut gelungen ist, das japanische Leidensbild von Bulimikerinnen ziemlich genau wiederzugeben.  Der Anime ist somit ein Beispiel dafür, dem Publikum dieses heikle Thema einfühlsam, aber ohne zu kaschieren näherzubringen. 

Print Friendly, PDF & Email

Skip to content