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Partizipative Projekte aus dem Bereich der Japanologie

19. Januar 2023 von Mariana Rathbauer

Das japanische Kaffeehaus: Ein Ort des Wohlbefindens?


Kaffeehaus Atmosphäre ©Mariana Rathbauer

Viele Leute suchen nach dem Sinn des Lebens, nach ihrem persönlichen ikigai. Sie gehen dafür auf lange Reisen um die Welt und in sich selbst. Auch die Wissenschaft beschäftigt schon lange die Frage, was das Leben für Menschen lebenswert macht. In dem sonst von ökonomischen und psychologischen Ansätzen geprägten Feld der Wohlbefindens-Forschung hat sich in den letzten Jahren ein neues Framework zur Erforschung von Wohlbefinden herauskristallisiert, das Ort, Zeit, Kultur und ihr Zusammenspiel als wichtige Faktoren im Wohlbefinden definiert, relational wellbeing. In diesem Kontext habe ich mir die Frage gestellt :
„Kann man ikigai (life worth living) im japanischen Kaffeehaus finden?“

Was ist das japanische Kaffeehaus und was macht es aus?

©Mariana Rathbauer

Am Rande des 20er Jahre Vergnügungsviertels shinsekai in Osaka, direkt an der Ecke zum Ausgang 3 des Bahnhofs Ebisucho, findet man ein kleines Kaffeehaus namens „Harness“. Aufkleber auf den Fenstern verkünden, dass es sich hier um einen „Tea Room“ handelt und auf der Speise- und Getränkekarte findet sich neben einem uiena kouhi – hier eine Melange mit Schlag, in vielen anderen japanischen Kaffeehäusern ein Einspänner – eine größere Selektion an Sandwiches, die einen eher britischen Eindruck vermitteln. Was auf den ersten Blick wie eine etwas seltsame Eigenheit wirken mag, ergibt, wenn man bedenkt, wie das Kaffeehaus nach Japan kam, jedoch sehr viel Sinn.

Woher kommt das japanische Kaffeehaus ? (Ein sehr kurzer Überblick)

Tei Ei-Kei – auf Japanisch auch bekannt als Nishimura Tsurukichi, Pionier des japanischen Kaffeehauses, erster „Kaffeehaus Meister Japans“ und Begründer des ersten japanischen Kaffeehauses – brachte in den frühen 1880er Jahren nach seiner Zeit als partyliebender Student in Übersee eine große Liebe zum Kaffee aus Amerika und eine große Leidenschaft für das Kaffeehaus aus England mit zurück nach Japan.

Nach etlichen Jahren und einer Reihe betrüblicher Ereignisse gründete er 1888 schließlich das „kahiichakan“ im Herzen von Ueno in Tokyo. Es war in seiner Art eigentlich mehr britischer Gentlemens Club als klassisches Kaffeehaus. Genau diese augenscheinliche Eigenheit, diese Vermischung der amerikanischen Kaffeekultur mit der englischen Kaffeehauskultur spiegelt die auch heute noch, für Japan so typische, heterogene Erscheinungsform ihres Kaffeehauses wider. Das kahiichakan war jedoch ähnlich wie sein Begründer leider nicht unbedingt vom Glück gesegnet. Nur fünf Jahre nach seiner Gründung ging es bankrott, zwei Jahre danach verstarb auch Tei Ei-Kei ausgerechnet in der amerikanischen Hauptstadt der Kaffeehauskultur, Seattle. Heute erinnert in Tokyo nur noch ein kleines Denkmal neben dem Hauptquartier von Sanyo Electric Tokyo in Ueno an ihn und seinen großen Traum.

Welche Arten von Kaffeehäusern gibt es in Japan?

Tei Ei-Keis Leben und sein Kaffeehaus mögen ein eher trauriges Ende gefunden haben. Tei Ei-Keis Traum, das Kaffeehaus in Japan zu verankern, dagegen hat sich erfüllt. Wie in Wien gibt es heutzutage auch in Japan Kaffeehäuser wie Sand am Meer und das in allen Formen und Farben. Das oben beschriebene „Harness“ ist übrigens ein ganz klassisches kissa (kissaten, wenn man ganz korrekt sein möchte), also das „klassische“ japanische Kaffeehaus. Aber man findet natürlich noch andere Arten von Kaffeehäusern, angefangen mit denen der großen Coffeeshop-Ketten wie sutaba, also „Starbucks“ über trendige kleine Specialty-Coffeeshops, die berühmten Katzen-, Hunde-, Hasen- und die ganzen anderen Tiercafés bis hin zu temporären Kleinoden der Themencafés, wie das „Sailor Moon Jubiläums Café“, das man letztes Jahr in Roppongi besuchen konnte.


©Mariana Rathbauer


In der „Alpenrose“ ©Mariana Rathbauer

Was treiben die Leute dort so?

In allen findet man ganz unterschiedliche Leute, die aus ganz unterschiedlichen Gründen im Kaffeehaus sitzen. Damit ist natürlich nicht gemeint, dass bestimmte Kaffeehausarten nur von bestimmten Leuten aufgesucht werden. In so gut wie jedem findet man sie: den Stammtisch der lokalen Friedhofsmafia, übernächtige Jus-Studierende, schultertief in Lernunterlagen und Fallbeispiele vergraben, junge und ältere Pärchen auf Dates, gestresste sarariiman, die zwischen zwei Terminen ihre Coffein-Batterie auffüllen. Alle miteinander haben auf den ersten Blick nicht besonders viel gemeinsam und doch sitzen sie alle im gleichen Kaffeehaus. Und obwohl die meisten Leute jeweils ihre eigenen Stammkaffeehäuser für verschiedene Gelegenheiten haben, ist dies keineswegs festgelegt.

Auch wenn jemand wie ich erste Dates immer ins moderne kissa beim Kyoto Manga Museum schleppen, den Katerkaffee beim „Tully’s“ in der Krankenhauspassage ums Eck vom Yoshida Campus holen, im „Starbucks“ im „Tsutaya Books“ neben dem Okazaki Park lernen und, wenn vom Heimweh gepackt, in die „Alpenrose“ schauen würde, können die Funktionen dieser Kaffeehäuser natürlich auch anders verteilt werden.

Warum sind die Kaffeehäuser dennoch EIN gemeinsamer Ort?

Man muss immer vorsichtig sein, wenn man Kaffeehäuser in Kategorien einteilt. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen ihnen und sie sind vielleicht auch auf verschiedene Dinge ausgelegt.

Die meisten Specialty-Coffeeshops zum Beispiel sind oft nicht für Stammtische geeignet – aber nur weil ein Buntstift zum Malen gedacht ist, kann man damit trotzdem den Einkaufszettel schreiben. Wer weiß, vielleicht hat man ihn gerne farbig kodiert – es könnte sich ja auch der Stammtisch der „Freunde der Arabica Bohne“ dort treffen. Vielleicht ist der Barista sogar der Vorsitzende.

Wenn man trotzdem definieren möchte, was das Kaffeehaus für einen sozialen und kulturellen Zweck erfüllt, kann man es so betrachten: „Was machen die Leute im Kaffeehaus?“ Die Antwort: „Alles“. Oder genauer: Alles, was sie nicht in der Arbeit, Uni, Schule etc., aber auch nicht zu Hause machen wollen. Im Kaffeehaus ist man, wie schon dieses schöne Wiener Sprichwort sagt: „Ned daham und do ned an der frischen Luft“.

Relational wellbeing – Was macht das Wohbefinden aus?

Wir sehen das Kaffeehaus als kulturell und sozial funktionale Einheit an und kommen damit zum nächsten Aspekt unserer Forschung, dem Wohlbefinden. Darüber gibt es zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten. Die Fragen, „Wie gut geht es den Menschen eigentlich?“, „Geht es manchen Menschen besser und manchen schlechter?“ und „Warum geht es Menschen eigentlich gut oder schlecht?“ beschäftigen Wissenschaftler*innen in unterschiedlichsten Disziplinen immer wieder. Seit Jahren gibt es in der Wohlbefindens-Forschung einen großen Überhang an ökonomischen und psychologischen Ansätzen. Die qualitative Sozialforschung hat jedoch das Thema bisher eher stiefmütterlich behandelt. Dabei würden dort ganz andere Dinge im Fokus stehen als bei den Wirtschaftswissenschaftler*innen und Mediziner*innen.

Der Zusammenhang zwischen Örtlichkeit, Zeit, Kultur und Wohlbefinden und warum man ihn erforscht

Es gibt aber Hoffnung in Form des Konzepts des relational wellbeing. Dieser relativ neue Ansatz, der in Zusammenarbeit von Forscher*innen unterschiedlichster sozialwissenschaftlicher Fächer wie Anthropologie, Soziologie, Geographie entstanden ist, besagt, dass Ort, Zeit und Kultur Einfluss auf das Wohlbefinden der Menschen haben und damit nicht „universell“ erforscht werden können. Die Idee ist, dass nur in Anbetracht dieser Faktoren Wohlbefinden zuverlässig so erforscht werden kann, dass dann auf dieser Forschungsbasis Policy-Vorschläge möglich werden.

Relational wellbeing ist damit ein Framework. Möchte man wissen, wie ein Ort das Wohlbefinden der Menschen beeinflusst, muss man sich ein Wohlbefindens-Konzept aussuchen, über das man den Rahmen von relational wellbeing spannen kann.


©Mariana Rathbauer

Ikigai

In diesem Fall ist das zugrundeliegende Konzept das japanische Wohlbefindens-Konzept ikigai. Ikigai – im Englischen mit „life worth living“ übersetzt – beschreibt das Gefühl, dass das eigene Leben einen Sinn hat. In Japan ist ikigai als Begriff sehr gängig. In der Lifestyle-Abteilung jedes japanischen Buchladens finden sich unzählige Ratgeber, wie man am besten sein ikigai findet.

Die zwei Arten von ikigai

Von ikigai gibt es nun auch wieder mehrere Arten. Also eigentlich zwei, ikigai-kan und ikigai-taishō. Ikigai-kan ist das Gefühl von ikigai, also das Gefühl von Lebenssinn. Ikigai-taishō dagegen ist das Ding oder die Person, die Entität, wenn man so will, die dem eigenen Leben Sinn verleiht. Leute beschreiben oft ihre Familie oder ihre Arbeit als ihr ikigai.

Die Erfahrung von ikigai

©Mariana Rathbauer

Da ikigai, bzw. ikigai-kan ein Gefühl ist, und man Gefühle erfährt, einfach nur, indem man lebt, kann natürlich auch ikigai erfahren werden. Das nennt sich auch keiken – Erfahrung. Ikigai-keiken ist eine sehr neue Konzeption von ikigai. Es beschreibt die verschiedenen Erfahrungen, die man machen kann und die das Gefühl von ikigai auslösen oder fördern. Bisher wurden diese Erfahrungen in vier verschiedene Gruppen eingeteilt: tanoshimi, ganbari, iyashi und shigeki. Tanoshimi – das Vergnügen – umfasst Erfahrungen, die Spaß machen, wie: sich mit Freunden treffen, essen gehen, Musik hören und Ähnliches.

Ganbari ist die Anstrengung. Dahinein fallen Aktivitäten, die anstrengend sind, sich am Ende aber doch irgendwie lohnen. Zum Beispiel, wenn die im Kaffeehaus büffelnden Jus-Studierenden dann ihren Fall im Moot Court gewinnen.

Iyashi ist der Komfort, in einer vertrauten Umgebung vertraute Dinge zu tun – jeden Mittwoch mit den immer gleichen, altbekannten Damen bei dem immer gleichen Kaffee mit den immer gleichen Sandwiches über die immer gleichen Leute zu tratschen. Und shigeki sind anregende neue Erfahrungen, wie vielleicht in einem fremden Kaffeehaus neue Ideen oder Leute kennenzulernen.

Ikigai im japanischen Kaffeehaus suchen

Sucht man also nach dem Sinn des Lebens, nach ikigai, muss man nicht weiter gehen als bis ins nächste Kaffeehaus und schon findet man ikigai (ikigai-keiken) im Überfluss. Auch Sie haben gerade vielleicht schon ikigai erfahren. Shigeki, wenn sie diesen Artikel zum ersten Mal lesen oder iyashi, wenn sie wieder einmal zu dem Artikel zurückkehren.

Und wer weiß, vielleicht fanden Sie das Lesen ein wenig anstrengend, aber dennoch lohnend oder hatten sogar Spaß dabei.

Schlusswort

Auf der Suche nach Wohlbefinden im japanischen Kaffeehaus kann man viele Wege gehen. Ich hoffe ich konnte Ihnen in diesem Artikel den von mir entwickelten Weg über den Zusammenhang von Ort und Wohlbefinden, wie es relational wellbeing beschreibt, in Kombination mit dem zugrundeliegenden Konzept des Erfahrens von ikigai, ikigai-keiken etwas näher bringen.

Pressetext (verfasst im November 2022):

Kann das (japanische) Kaffeehaus als Ort das Wohlbefinden der Menschen beeinflussen? Viele Leute, allen voran die Wiener*innen, würden diese Frage wohl, ohne zu zögern, bejahen. Tatsächlich gibt es zu dem Thema bisher erstaunlich wenig Forschung, dabei gäbe es durchaus wissenschaftliche Ansätze dafür. Einer wird hier genauer betrachtet. 

Wie auch in Wien hat das japanische Kaffeehaus viele Facetten, das klassische kissaten, die einheitlichen Coffee-Shop-Ketten, das gemütliche Katzencafé, die angesagten Specialty-Coffee-Shops oder auch die zahlreichen nerdigen Themen-Cafés. Alles sehr verschiedene Orte, die für verschiedene Menschen verschiedene Funktionen erfüllen. Auf den ersten Blick mag dies die unterschiedlichen Arten des Kaffeehauses voneinander trennen, bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass all diese Funktionen der Kaffeehäuser untrennbar miteinander verflochten sind. 

Manche Leute gehen für ein erstes Date vielleicht gerne in das unauffällige kissa unten an der Ecke, andere vielleicht ins Sailor-Moon und wieder andere wollen vielleicht mit einem Besuch in einem angesagten Indi-Coffee-Shop punkten. Manche Studenten vergraben sich zum Lernen am liebsten anonym in der Ecke eines großen Ketten Coffee-Shops, andere bevorzugen vielleicht die Gesellschaft von flauschigen Katzen. Keine dieser vielen Formen des japanischen Kaffeehauses hat eine einzige klar definierbare Funktion, weshalb es nur sinnvoll ist, alle miteinander als eine Einheit zu betrachten. 

Um diese Einheit des japanischen Kaffeehauses nun als Faktor im Wohlbefinden der Menschen zu betrachten, reicht es, durch die richtige Linse zu schauen. In diesem Fall ist diese Linse relational well-being. Das Konzept des relational well-being besagt, dass Ort, Zeit und kulturelles Umfeld Einfluss auf das Wohlbefinden haben. Darüber hinaus sollten unter relational well-being auch immer das lokale Verständnis von Wohlbefinden in Betracht gezogen werden. Was hier das japanische Wohlbefindens Konzept ikigai als Messlatte für das Wohlbefinden im Kaffeehaus ins Spiel bringt. Ikigai wird im Englischen oft übersetzt mit „life worth living”. Im Deutschen wird es oft mit dem Gefühl der Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens gleichgesetzt. Diese sehr allumfassenden Definitionen von ikigai übersehen oft, dass ikigai nicht nur eine statische Empfindung ist, die man entweder hat oder nicht, sondern ein facettenreiches Gefühl, das durch verschiedene Faktoren beeinflusst und aktiv erlebt werden kann. 

Dieses Erleben von ikigai wird als ikigai keiken bezeichnet und ist eine noch sehr neue Konzeption von ikigai. Sie wurde 2020 erstmals von den Freizeit-Forschern Shintaro Kono und Gordon J. Walker definiert. Kono und Walker definieren vier Komponenten von ikigai keiken: tanoshimi also Vergnügen (im Englischen als „enjoyment“ übersetzt), ganbari (Anstrengung oder „effort“), shigeki (Anregung oder „stimulation“) und iyashi (Entspannung oder „comfort“), die die Erfahrung des Gefühls von ikigai fördern können. Wenn man diese vier Komponenten genauer betrachtet, lassen sich schnell Verbindungen zu Erfahrungen, die intrinsisch mit einem Kaffeehausbesuch verbunden sind, herstellen.

Und so beantwortet sich die zu Anfang gestellte Frage: “Kann das (japanische) Kaffeehaus als Ort das Wohlbefinden der Menschen beeinflussen?”. Ja kann es! (Zumindest theoretisch.)

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