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Partizipative Projekte aus dem Bereich der Japanologie

14. Januar 2023 von Robert Larcher

Kitsune-tsuki: Zwischen Volksglauben und psychischer Krankheit


„A Glimpse of Hope [Lofi ver.]“, Originalmusik ©Robert Larcher

Geister, Dämonen und spirituelle Wesen – im japanischen Volksglauben spielen diese Erscheinungen, welche als yōkai bekannt sind, eine wesentliche Rolle. In meiner Seminararbeit beschäftigte ich mich literaturhistorisch mit kitsune-tsuki oder auch „Fuchsbesessenheit“, welches eines von vielen Phänomenen des Volksglaubens darstellt und sich in literarischen Werken bis in das 8. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Doch wurde dieses Phänomen nicht immer nur als Volksglaube wahrgenommen und sollte später auch mit psychischer Erkrankung in Verbindung gebracht werden.

Farbholzschnitt, nishiki-e (Papier, Farbe). Tsukioka Yoshitoshi, 1890, aus der Serie Shinkei sanjūroku kaisen (Neue 36 Geister).
©National Diet Library, Tōkyō.

Rache, Gerechtigkeit und karmische Wiedergeburten

Beim Phänomen kitsune-tsuki, oder „Fuchsbesessenheit“, spielen Rache und karmische Wiedergeburt eine zentrale Rolle. Zudem wählen Füchse ihre Opfer nicht unbedingt willkürlich aus, sondern
zeigen einen gewissen Gerechtigkeitssinn. Auch eine religiöse Verbindung und die Austreibung als Mittel, um die Besessenheit aufzulösen, lässt sich finden. Zur Einführung in die Thematik der Legenden um kitsune-tsuki nehme ich ein paar Literaturbeispiele unter die Lupe, bei welchen genau die genannten Prinzipien verdeutlicht werden.

Rachegedanken im Nihon ryōiki

Das erste Werk ist das Nihon ryōiki (jap. 日本霊異記). Es wurde zwischen 787 und 822 von einem Mönch namens Kyōkai (jap. 景戒) geschrieben und ist eines der allerersten Schriftstücke, welches sich mit kitsune-tsuki befasst. Zwar bedeuten Füchse in Japan im Allgemeinen nicht immer ein schlechtes Omen, in den im Nihon ryōiki angeführten setsuwa (volkstümliche Gattung der japanischen Erzählliteratur) sind sie aber überwiegend negativ konnotiert. Kitsune müssen aber nicht unbedingt garstig sein, sondern können auch einfach nur schelmisch auftreten, was sich in diesem Werk ebenfalls widerspiegelt. Der zweite setsuwa im dritten Band des Nihon ryōiki, dient als gutes Beispiel für die Thematik kitsune in Legenden seit dem Altertum.

…bald darauf stirbt der Patient und ein Jahr später liegt ein Schüler des Mönchs im selben Raum. Ein Besucher kommt, um den Mönch zu sehen und bindet seinen Hund an einen Pfosten. Der Mönch sieht, wie der Hund sich gegen die Ketten wehrt und sagt dem Besucher, er solle diesen doch freilassen: Sobald der Hund freigelassen wird, läuft dieser in den Raum des kranken Schülers und kommt heraus mit einem Fuchs in seinem Maul. Obwohl der Besucher versucht, den Hund zu bändigen, lässt dieser nicht los und beißt den Fuchs zu Tode. Es ist offensichtlich, dass die tote Person als Hund wiedergeboren worden ist, um Rache am Fuchs zu üben. Ah! Rache kennt keine Grenzen. (übersetzt nach Izumoji 1996:131–133)

In diesem setsuwa lassen sich wesentliche Charakteristika zu kitsune-tsuki-Geschichten finden, auch ohne darin den Begriff „Besessenheit“ zu verwenden. Rache ist ein wesentliches Prinzip, das in diesem Text zum Vorschein kommt. Der Verstorbene, welcher als Hund wiedergeboren worden ist, stürmt in das Zimmer, um den Fuchs zu töten. Dieser Rachegedanke erstreckt sich über den Tod, und es zeigt sich wirklich, dass Rache in diesem setsuwa keine Grenzen kennt. Hier zeigt sich auch ein weiteres Charakteristikum, nämlich das Prinzip der karmischen Verbindung über mehrere Wiedergeburten hinweg. Neben diesen beiden Prinzipien ist es auch wichtig zu erwähnen, dass es nicht zufälligerweise ein Hund ist, welcher als Gegenspieler zum Fuchs auftritt. Hunde sind in den Legenden, aber auch in traditionellen Überlieferungen nämlich häufig die Widersacher von Füchsen.


Fragment einer illustrierten Erzählung des Genji monogatari; ©Gotoh Museum, Wikimedia Commons

Der Fuchsgeist im Genji monogatari

Das nächste Schriftwerk ist das überaus bekannte Genji monogatari (jap. 源氏物語). Es entstand Anfang des 11. Jahrhunderts und wird Murasaki Shikibu zugeschrieben. Wann es vollendet wurde, ist jedoch unklar. Das Werk ist der erste Roman der japanischen Literaturgeschichte, und kitsune werden, wie im vorherigen Werk, nur erwähnt und spielen nicht die Hauptrolle im gesamten Werk. Eine Textstelle im Genji monogatari beschreibt jedoch, dass Genjis Frau von einem spirituellen Wesen besessen ist. Im Körper des Mediums verlangt der Geist eine Privataudienz bei Genji und gibt darauffolgend seine Identität preis. Genji reagiert darauf entsetzt:

Bist es wirklich du? Ich habe gehört, dass Füchse und andere böse Kreaturen manchmal verrückt werden und versuchen, die Toten zu verleumden. Sag mir ganz klar, wer du bist oder gib mir ein Zeichen, etwas, das für andere zwar bedeutungslos scheinen mag, jedoch für mich unverwechselbar ist. Dann werde ich dir Glauben schenken. (übersetzt nach Seidensticker 1976:617–618)

Erzählungen spielen gerne damit, dass spirituelle Wesen nicht sofort identifiziert werden können. Häufig offenbart sich der Geist dann durch ein Medium und gibt seine Identität und die Ursache für sein Kommen preis. Diese Unbestimmtheit der Besessenheit wirft letztlich die Möglichkeit auf, dass der Geist sich auch verstellen kann. Diese Möglichkeit wird in zahlreichen Berichten rund um kitsune realisiert.

Austreibung der Fuchsbesessenheit

Das dritte Werk ist das Fusō ryakki (jap. 扶桑略記). Es ist eine Darstellung der Geschichte Japans von der Zeit des Jinmu Tennōs (jap. 神武天皇, geb. 711 nach mythologischer Zeit) bis hin zur damaligen Gegenwart (Heian-Zeit, 794-1185). Eine Textstelle darin beschreibt die Besessenheit einer früheren Kaiserin, welche nach einer dreitägigen Zeremonie geheilt wird.

Am Morgen des vierten Tages schrie die Kaiserin laut auf, krümmte ihren Körper und wälzte sich so heftig auf dem Boden, dass das Schlafzimmer fast zusammenbrach. In der Zwischenzeit erschien aus der nordwestlichen Ecke des Bettvorhangs ein Fuchsgeist, der ängstlich in alle Richtungen hin und her lief. Der Berater und alle anderen, die anwesend waren, zitterten vor Angst und verloren ganz die Geistesgegenwart. Dann las der Abt das Mantra der Erlösung, woraufhin das Haus aufhörte zu zittern und der Fuchs verschwand. (übersetzt nach De Visser 1908:35)

Es zeigt sich in diesem Text, wie langwierig eine Austreibung des Fuchsgeistes sein kann und auch die direkte Verbindung mit Religion ist hier klar ersichtlich. Es lässt sich auch erkennen, dass es durch rituelle Austreibung einen Ausweg aus der Besessenheit gibt. Das Fusō ryakki zeigt außerdem auf, dass kitsune-tsuki ein wichtiges Mittel für Füchse ist, um Rache auszuüben. 

Auch in weiteren Werken, wie unter anderem dem Konjaku monogatari-shū (jap. 今昔物語集, dt. Geschichten aus der Vergangenheit) und später dem Uji shūi monogatari (jap. 宇治拾遺物語, dt. Erzählungen des Hofmarschalls von Uji) lassen sich Textstellen zur Besessenheit durch kitsune finden.

Ein kitsune in Mönchsgestalt aus einem komödiantischen Theaterstück. Fuchsschrein (Konkai) ©Tsukioka Yoshitoshi (1886), Rijksmuseum

Der einäugige Fuchs otora-gitsune

In der Heian-Zeit haben sich neben den angeführten Legenden auch traditionelle Geschichten entwickelt. Diese können von Region zu Region verschieden sein. Eine Geschichte, auf die wir nun genauer eingehen, handelt von otora-gitsune (dt. Der Fuchs Otora). Der Name otora rührt von einem Mädchen einer wohlhabenden Familie her. Diese war nämlich das erste Opfer eines gewissen Fuchsgeistes. Die Geschichte entstand nach der Schlacht von Nagashino (1575) und erzählt von einem Fuchs, welcher in Mikawa (heute: Präfektur Aichi) wohnte. Der Fuchs war Bote des Inari-Schreins beim Schloss Nagashino (jap. 長篠城). Während der Schlacht verlor er nicht nur aufgrund eines Brandes sein Zuhause, sondern wurde auch beschossen, wodurch sein linkes Bein und sein linkes Auge verletzt wurden. Der erboste Fuchs rächte sich an den nahewohnenden Dorfbewohnern. Das Mädchen otora war die erste Person, von der Besitz ergriffen wurde. Es wird auch gesagt, dass Menschen, welche von otora-gitsune besessen sind, Probleme mit ihrem linken Auge und ihrem linken Bein bekommen. Während sie von otora-gitsune besessen sind, sollen manche auch über die Schlacht von Nagashino sprechen. Die Geschichte zeigt, dass Rache auch hier ein wesentliches Prinzip für kitsune darstellt. Der Gerechtigkeitssinn spiegelt sich darin wider, dass otora-gitsune als Erstes das Mädchen einer wohlhabenden Familie befällt. Häufig geht es dabei darum, von den
Reichen zu nehmen und den Armen zu geben.


Vorderer Yamazumi-Schrein; ©Alpharigid, CC BY-SA 4.0

Schreinbauten zur Heilung

Der Inari-Glaube, in dem Füchse eine wichtige Bedeutung haben, spielt eine wesentliche Rolle. Manche Inari-Schreine können aufgesucht werden, um sich von kitsune-tsuki heilen zu lassen. Im Fall von otora-gitsune gibt es jedoch einen spezifischen Schrein, welcher nicht Inari zugeschrieben ist, nämlich den Yamazumi-Schrein (jap. 山住神社). Dieser ist nämlich unter anderem O-Inusama (jap. 御犬様, wtl. „Herrn Hund“) gewidmet und dieser Schrein, der demnach als Hunde- (bzw. Wolfs-)Schrein bekannt ist, sollte von Leuten aufgesucht werden, welche von otora-gitsune besessen sind. Dadurch lässt sich gut erkennen, dass Hunde bzw. Wölfe nicht nur in Legenden als Gegenspieler agieren. Denn auch Schreinbauten werden genutzt, um Menschen von der Fuchsbesessenheit zu heilen.

Fuchsbesessenheit und psychische Krankheit

Besonders interessant war der Standpunkt der Psychiatrie in der späten Edo-Zeit (1603-1868), als sich bedeutende Kampo-Praktiker (jap. 漢方, japanischer Name für Pflanzenheilkunde mit Wurzeln aus der traditionellen chinesischen Medizin) mit dem Phänomen beschäftigten. Einer davon war Kagawa Shūtoku (jap. 香川修徳, 1683-1755). Seiner Auffassung nach wurde eine psychische Störung als kan (jap. 癇, übersetzt „Reizbarkeit“) verstanden. Laut Kagawa tritt Fuchsbesessenheit sehr selten auf und nur Leute mit Veranlagung zu kan können betroffen sein. Dies ist jedoch nur eine der vielen Auffassungen über kitsune-tsuki zu jener Zeit. Zwar gab es bereits in der Heian-Zeit Ansätze, das Phänomen als „Krankheit“ zu beschreiben, jedoch verstärkte sich diese Ansicht erst während der Edo-Zeit. Es war häufig die Erklärung für abnormales Verhalten.

Es kam auch vor, dass Leuten kitsune-tsuki zugeschrieben wurde, obwohl sie lediglich körperliche Krankheiten wie beispielsweise Fieber hatten. Daran lässt sich erkennen, dass häufig eine bereits bestehende Krankheit durch kitsune-tsuki erklärt wurde. Die Meiji-Restauration leitete eine Modernisierung und Verwestlichung Japans ein, und die westliche Medizin sollte kitsune-tsuki als eine Form von Geisteskrankheit definieren. Der deutsche Arzt Erwin von Bälz schrieb 1885 die erste wissenschaftliche Abhandlung zu kitsune-tsuki und verlieh der Krankheit den Namen alopecanthropy. Der rege Austausch in der Psychiatrie zwischen Japan und Deutschland hatte ein System zur detailreichen Erfassung von Fallgeschichten zufolge und dies beeinflusste den japanischen Diskurs über die Merkmale psychischer Erkrankungen. Kadowaki Masae (jap. 門脇真枝, 1872-1925) lieferte mit ihrer Arbeit A new treatise on fox possession (1902) eine Sammlung detaillierter Erzählungen über das Leben unter Fuchsbesessenheit. Kitsune-tsuki kann als ein kulturgebundenes Syndrom verstanden werden, das nur in der japanischen Kultur vorkommt. Direkte Vergleiche bzw. das „Übersetzen“ in andere Krankheiten erweist sich daher als sehr schwierig. Aus diesem Grund wurden bei größeren Fallstudien meist sowohl Berichte klinischer Psychiatrie als auch ethnologische Berichte miteinbezogen. Abschließend lässt sich sagen, dass kitsune-tsuki viele verschiedene Facetten aufweist und daher sowohl in der Literatur als auch in der Psychologie ein interessantes Phänomen darstellt.

Pressetext (verfasst im November 2022):

Auch heute noch haben yōkai (jap. 妖怪) eine hohe Bedeutsamkeit in der Kultur Japans. Besonders gut erkennen lässt sich dies in Werken der japanischen Populärkultur, wie unter anderem Anime und Manga. Die Herkunft verschiedenster yōkai ist häufig mit Legenden verbunden und ihre Anzahl und Vielfältigkeit im japanischen Volksglauben ist ausgesprochen groß. Auch die Verbindung mit Religion ist nicht ungewöhnlich, im Gegenteil, häufig sogar eng mit deren Ursprung verknüpft. Durch die Interpretation ihrer Geschichten, traditionellen Überlieferungen und künstlerischen Darstellungen können wichtige Verknüpfungen zur Kultur Japans in bestimmten Perioden hergeleitet werden.

Einer von vielen yōkai sind kitsune (jap. 狐), was eigentlich Fuchs bedeutet, aber in diesem bestimmten Zusammenhang vielmehr mit Fuchsgeistern übersetzt werden kann. Diese Fuchsgeister sind häufig dafür bekannt, Besitz von Menschen zu ergreifen. Dieses Phänomen wird kitsune–tsuki genannt. Das Zeichen für tsuki (jap. 憑) bedeutet so viel wie „beherrschen“ und wird im Kontext von Besessenheit verwendet. Im japanischen Volksglauben gibt es jedoch nicht nur Füchse, welche Besitz von Menschen ergreifen, sondern beispielsweise auch tanuki (Marderhunde).

In meiner Forschungsarbeit wurden verschiedene historische Texte, Legenden und Berichte zu kitsune–tsuki analysiert. Bereits im japanischen Altertum (4. Jh.–12. Jh.) lassen sich Texte mit Bezug auf kitsune–tsuki finden, wie beispielsweise im außerordentlich bekannten Genji monogatari (dt. Die Geschichte vom Prinzen Genji), welches von Murasaki Shikibu geschrieben wurde. Rache, Gerechtigkeit oder auch Wiedergeburt stehen oftmals im Vordergrund der (traditionellen) Geschichten und Legenden rund um das Phänomen. Im japanischen Mittelalter (12. Jh.–16. Jh.) kamen zudem darstellende Künste wie nōh und kyōgen hinzu, welche kitsune–tsuki in ihre Aufführungsstücke mit einbezogen. Weiters erlangten kitsune in der japanischen Neuzeit (16. Jh.–19. Jh.) im Inari-Glauben an besonders hohe Bedeutung.

Einen sichtbaren Umschwung der Sichtweise von kitsune–tsuki als reinem Volksglauben gab es jedoch vermehrt in der späten Edo-Zeit (Anfang 19. Jh.). Zwar gab es Ansätze von kitsune–tsuki als „Krankheit“ bereits im japanischen Altertum, jedoch wurde das Phänomen erst zur späten Edo-Zeit vermehrt aus dem Standpunkt der Psychiatrie betrachtet und folglich mit psychischer Krankheit in Verbindung gebracht.

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