Die Tourismusoffensive in Minamiaso

Besonders das ländliche Japan ist von den Folgen des demographischen Wandels stark betroffen. Auch auf der Insel Kyūshū, im Ort Minamiaso, der sich in der Präfektur Kumamoto befindet und im Jahr 2005 durch den Zusammenschluss von drei Gemeinden entstanden ist, können diese Auswirkungen beobachtet werden: In den letzten Jahrzehnten sind hier sowohl die Bevölkerungszahl als auch die Geburtenrate stetig, über dem Landesdurchschnitt zurückgegangen. Die Zahlen verdeutlichen es: Bereits im Jahr 2017 war über ein Drittel der Bewohner*innen über 65 Jahre alt, während bei der letzten Erhebung Anfang Dezember 2022 bereits rund 43% dieser Altersgruppe angehörten. Von etwas über 10.000 Personen sind also fast 4.400 Personen mindestens 65 Jahre alt.

Gefordert sind die lokalen und nationalen Entscheidungsträger*innen Japans. Orte wie Minamiaso werden als kaso chiiki (Gebiet mit abnehmender Bevölkerungszahl und hohen Überalterungsraten) klassifiziert und finden sich in ganz Japan. Durch – je nach Einstufung – unterschiedlich hoch dotierte Fördergelder soll hier Abhilfe geschaffen werden. Auch die sogenannte furusato nōzei („Heimatsteuer“; wohlhabendere Personen spenden einen gewissen Betrag an die Gemeinde und erhalten lokale Produkte als Ausgleich) zählt zu einem dieser Förderprogramme, und kommt in Minamiaso seit dem Jahr 2008 zum Einsatz. Seit 2017 gibt es das Programm der chiiki okoshi kyōryokutai (lokale Revitalisierungsgruppe; Personen aus urbanen Gebieten migrieren in ländliche Regionen und führen dort Projekte durch). Die Mitglieder dieser Gruppe sind online sehr präsent und kümmern sich neben Migrationsförderung auch um den Tourismus in Minamiaso. Seit dem 1. April 2017 ist die Tourismusbehörde in Minamiaso Teil eines staatlichen Vorhabens (unter dem Schlagwort kankō chiiki zukuri, „Tourismus-Regionalentwicklung“) zur Einrichtung von sogenannten destination management organisations (Verwaltungseinheiten zur touristischen Vermarktung) und kooperiert eng mit der lokalen Revitalisierungsgruppe.
©Minamiaso kankō-kyoku
Im Zuge meiner Bachelorarbeit habe ich mir die Frage gestellt, wie Minamiasos Tourismusförderung in den sozialen Medien in der Praxis umgesetzt wird. Deswegen habe ich den aktiv betriebenen YouTube-Kanal der Tourismusbehörde verfügbar. ins Zentrum meiner Arbeit gestellt und Minamiasos Charakteristika, so wie sie uns durch diesen YouTube-Kanal vermittelt werden, herausgearbeitet. Wie sieht also die Praxis der Vermarktung einer kleinen Gemeinde aus, die sich in den Weiten des Internets in der Hoffnung auf Revitalisierung inszeniert? – Es folgt Minamiasos Tourismusoffensive.
Wir befinden uns im Süden der Aso-Region. Inmitten der Caldera des Aso-Vulkans. In der Ferne zeichnet sich der Vulkankrater ab. Uns umgeben Felder, Weideflächen, Radwege und kleine Quellen. In der Umgebung grasen einige Kühe.
Minamiaso muss sich als touristisches Reiseziel nicht neu erfinden. Aufgrund seiner reichhaltigen Naturlandschaft bestehen bereits genug urtümliche Schauplätze, die einen Besuch rechtfertigen. Minamiasos Natur – egal ob Bächlein oder Reisfeld – ist in allen YouTube-Videos omnipräsent und umrahmt die gezeigten Szenen. Sogleich entsteht bei uns die Assoziation mit einem idyllischen, inmitten der Natur gelegenen Reiseziel, das zum Staunen einlädt. Eine Assoziation, die den Betrachter*innen im Gedächtnis bleibt.

Die Natur in Minamiaso ist eng mit Religion und Spiritualität verbunden. Selten besuchte Schreine in Wäldern und bei Quellen vermitteln eine naturbelassene, mystische Region, die scheinbar mit Legenden einhergeht. Ein Beispiel ist die Legende von der Entstehung der Aso-Region:
Als Reiseziel lebt Minamiaso von den tatsächlichen natürlichen Erscheinungen. Zur Veranschaulichung drei Zitate aus den Videos:
„Mainen no tanoshimi ga aru. Man kann sich jedes Jahr an seiner Blüte erfreuen.“ Der über 400 Jahre alte isshingyō sakura (isshingyō-Kirschbaum) ist eine bekannte Sehenswürdigkeit der Aso-Region und vermittelt uns das Bild einer fruchtbaren Region und die lange Beständigkeit ihrer Naturlandschaft.
„Sore de wa Aso no daishizen o dōzo! Hier hat man den besten Ausblick auf Asos großartige Naturlandschaft!“ Zwei Radfahrer zeigen uns den besten Aussichtspunkt, während sie zum Gipfel des Aso-Vulkans unterwegs sind. Der Aso-Vulkan stellt die Krönung dieser Naturlandschaft dar und repräsentiert die gesamte Aso-Region.
„Mizu no umareru sato. Der Geburtsort des Wassers.“ Am einprägsamsten ist das Wasser in Minamiaso, wie uns dieser Zusatz in der Selbstbezeichnung der Gemeinde zu erkennen gibt. Das Wasser ist in vielen Lebensbereichen von Bedeutung: So werden die Felder damit bewässert; es wird verwendet, um lokale Produkte herzustellen und Aufnahmen im onsen (Thermalbad) unterstreichen, wie wohltuend das Wasser in Minamiaso ist.

Die Naturlandschaft und das Wasser in Minamiaso sind von großer Bedeutung in der Erstellung eines wiederkennbaren Reisezieles. Reale Gefahren, die mit dieser Naturlandschaft einhergehen, wie der Ausbruch des Aso-Vulkans, werden uns aber in den YouTube-Videos nicht näher gebracht.
Auch Erholung und Entschleunigung sind bedeutende Eigenschaften von Minamiaso. Dies beginnt schon mit der Anreise, mit dem Zug, nach Minamiaso. Die Videos zeigen uns immer nur ein Gleis, auf dem eine Eisenbahn fährt – ein starker Kontrast zu Transportmitteln wie dem Shinkansen. Idyllische, kleine Bahnhöfe sind umgeben von Feldern, Bäumen oder abgelegenen Nebenstraßen und lassen uns einen romantisierten Blick auf dieses ländliche Gebiet werfen.

Die YouTube-Videos präsentieren uns Minamiaso als den Ort, an welchem wir uns vollständig mit der Natur umgeben können: „Shizen to nakayoku nareru mura. Das Dorf, in dem man sich mit der Natur anfreunden kann.“
Ein ganzes Video widmet sich nur den „Plätzen zum Durchatmen“ (shinkokyū supotto) der Aso-Region. Natur und die damit einhergehende Ruhe stehen im Vordergrund. Es wird die gute Luftqualität betont und der Fokus auf das individuelle Wohlbefinden gelegt: „Kūki ga umasugi! Genki ni nareru! Die Luft ist so wohltuend, dass man gleich gesünder wird!“
Auch auf emotionaler Ebene wird uns die Schönheit der Natur nähergebracht: „Aso no dai panorama o kanjinagara. Man fühlt die Großartigkeit der Natur in der Aso-Region.“
„Itsumo egao ni nareru o-ki ni hairi no supotto o megurimasu. Eine Reise zu den Plätzen, die uns immer ein Lächeln ins Gesicht zaubern.“ – Neben den Attraktionen der Region, die an sich schon eine Entschleunigung des hektischen Alltags darstellen, gibt es noch zusätzliche Möglichkeiten zur Entspannung und Erholung. Die Erholung in onsen und ryokan (japanisches Gästehaus) begleitet den Aufenthalt in Minamiaso und steigert scheinbar das Wohlbefinden seiner Besucher*innen.
Wo eigene Vorlieben nicht zu kurz kommen
Minamiaso lässt seinen Besucher*innen genügend Raum für individuelle Auslegungen diese Ortes als ihr persönliches Reiseziel. Das Fahrrad wird uns als ideales Transportmittel für Tourist*innen vorgestellt. Mit Leichtigkeit kann man so durch die Gemeinde radeln, das Gebiet selbstständig erkunden und die präferierten Ausflugsziele besuchen. Diese Ausflugsziele können traditionell bzw. geschichtsträchtig sein, wie etwa Schreine, oder modern und innovativ. In vielen Videos werden uns Orte vorgestellt, an welchen sich schöne Bilder für die Plattform „Instagram“ aufnehmen lassen, oder auch besondere Veranstaltungen, wie ein Lichterfest, das es erst seit einigen Jahren gibt. Dass hier eine tendenziell jüngere Zielgruppe angesprochen wird, ist vermutlich dem Medium „YouTube“ geschuldet.

©Minamiaso kankō-kyoku
Als Besucher*in steht es uns also frei zu entscheiden, welches Minamiaso wir besuchen möchten:
„Minami-chan to arukitai Minamiaso.“ Das Minamiaso, in dem man mit Minami spazieren gehen will.
„Insuta hae suru Minamiaso.“ Das Minamiaso, in dem man Bilder für Instagram aufnehmen kann.
„Sekai ga ai suru Minamiaso.“ Das Minamiaso, das die Welt liebt.
Dies sind nur einige Facetten des Ortes. Minamiaso ist ein vielseitiges Reiseziel, welches seinen Besucher*innen keine bestimmte Ausrichtung vorschreibt. Tourist*innen dürfen „Minamiaso“ für sich selbst erkunden und dieses Reiseziel nach Belieben anpassen.
Minamiaso wird in den Videos als ein Ort dargestellt, an dem die Zusammenarbeit der Menschen zentral ist, sowohl in den Beziehungen der Lokalbevölkerung und der Betriebe als auch im Umgang mit seinen Besucher*innen. Zusammenarbeit sehen wir vor allem auf der Ebene der Betriebe. Für Tourist*innen ist dieses Gemeinschaftsgefühl die Einladung, Minamiaso zu besuchen und sich bei Bedarf auch selbst für die Region zu engagieren. Einheimische sprechen Empfehlungen für Sehenswürdigkeiten aus und stärken die emotionale Einbindung der Betrachter*innen in diese virtuelle Gemeinschaft. Eine Verbundenheit, wovon diese Vermarktung sicherlich profitiert.
Zusammenhalt finden wir nicht nur innerhalb von Minamiaso wieder: In zwei Videos werden Sehenswürdigkeiten in Orten außerhalb von Minamiaso – Takamori, Yamato und Nishihara – vorgestellt und es wird uns auch erklärt, dass diese Plätze nicht in Minamiaso liegen. Die Videos vermitteln uns kein Konkurrenzdenken zwischen diesen Orten, sondern sie werden als Minamiaso im weitesten Sinne dargestellt. Tourist*innen erhalten so ein zusätzliches Angebot, um das Reiseziel Minamiaso zu erweitern.

In diesem Handlungsgefüge eingebettet ist auch die Marke „Minamiasos sanftes Eis“ (Minamiaso no yasashii kōri), welche das kakigōri (mit Sirup übergossenes, geraspeltes Eis) in Minamiaso bezeichnet. Hier handelt es sich um eine Marke mit eigenem Logo, welche als Teil des Reiseziels Minamiaso existiert.
Auf gleiche Weise existiert Minamiaso als Teil der Präfektur Kumamoto, welche für das Maskottchen Kumamon bekannt ist. In einigen Videos kann man dieses Maskottchen sehen.
„Kumamoto kite yokatta.“ Ich bin froh, nach Kumamoto gekommen zu sein.
Personen in den Videos erzählen uns, dass wir uns in der Präfektur Kumamoto befinden. So wie Takamori, Yamato und Nishihara Minamiaso als Reiseziel erweitern, wird klar, dass Minamiaso bei einem Besuch der Präfektur Kumamoto eine passende Erweiterung des eigenen Erlebnisses darstellt.
Die YouTube-Videos haben uns durch ein Reiseziel geführt, dass sich fernab von den Problemen des ländlichen Japans inszeniert. Dabei stellt Minamiaso nur ein Beispiel für Revitalisierungsbestrebungen dar, die wir in ähnlicher Form in vielen Teilen des ländlichen Japans wiederfinden können. In der Praxis arbeitet die touristische Vermarktung Minamiasos auf diesem Medium mit vier Ebenen. Anstatt sich neu zu erfinden, nutzt Minamiaso als Reiseziel jene Möglichkeiten, die bereits gegeben sind: Natur, Ruhe und Erholung. Darüber hinaus wird durch individuelle Schwerpunkte versucht, ein breiteres Zielpublikum anzusprechen und auch lokale Kooperationen werden hervorgehoben. Als Maßnahme zur Revitalisierung werden diese vier Aspekte in den YouTube-Videos verständlicherweise dafür genutzt, Minamiaso in bestmögliches Licht zu rücken und eine emotionale Bindung zu diesem Ort aufzubauen. Dass auch die urbanen Maßnahmen, die unter anderem vom Tourismusministerium durch die destination management organisations vorgegeben werden, trotzdem hier mitspielen, zeigen ebenfalls einige YouTube-Videos. Nicht nur Minamiaso als Reiseziel, sondern auch die furusato nōzei („Heimatssteuer“) wird auf dem YouTube-Kanal beworben – ein weiterer Revitalisierungsversuch.
In Minamiaso wird mehrfach versucht, sich den Negativentwicklungen zu stellen. Auf lokaler Ebene wird auch durch eine aktuelle Richtlinie das ambitionierte Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2023 durch Maßnahmen und Bestrebungen in unterschiedlichen Bereichen Minamiaso zu neuen Höhen zu verhelfen. Die Antwort auf die Frage, wie effektiv diese touristische Vermarktung für Minamiasos Revitalisierung ist, steht allerdings in den Sternen. Wie es mit Minamiaso, den kaso chiiki und dem gesamten ländlichen Japan tatsächlich weitergeht, kann erst die Zukunft zeigen.
Pressetext (verfasst im November 2022):
Ländliche Gebiete in Japan erfahren zunehmend Negativentwicklungen wie hohe Überalterungsraten und abnehmende Bevölkerungszahlen. Unter dem Schlagwort kankō chiiki zukuri („Tourismus-Regionalentwicklung“) forciert die japanische Regierung Maßnahmen, um diesen sozioökonomischen Rückgang mit Hilfe von touristischer Vermarktung zu bekämpfen. Die Umsetzung ist dabei den lokalen Behörden überlassen. So wird in der auf der Insel Kyūshū gelegenen Gemeinde Minamiaso, Präfektur Kumamoto, unter anderem auf die Videoplattform „Youtube“ zurückgegriffen. Die lokale Tourismusbehörde (Minamiaso Kankō-Kyoku) setzt auf diese multimediale Darstellung, um den Ort zu bewerben und nachhaltig zu fördern. Eine Darstellung, die ich im Zuge meiner Forschung genauer betrachtet habe: Kurzerhand wird hier aus einer ländlichen Gemeinde ein attraktives Reiseziel, das (japanische) Tourist*innen von nah und fern zu sich einlädt.
Gelegen in der Caldera des berühmten Aso-Vulkans, überzeugt Minamiaso durch seine reichhaltige Naturlandschaft – von groß angelegten Weideflächen, über kleine, versteckte Quellen hinweg bis hin zum pompösen Vulkankrater lädt der Ort an jeder Ecke zum Innehalten und Staunen ein. Egal ob im Rahmen eines Besuches in einem der onsen (Thermalbäder) oder während einer Radtour entlang kleiner Bäche, auch die Erholung durch das wohltuende Wasser ist in seiner Videodarstellung omnipräsent und unterstreicht den langsamen Lebensstil, der als Ausgleich zum hektischen Stadtleben für das Reiseziel „Minamiaso“ ebenso charakteristisch ist. Minamiaso spricht durch seine Vielfalt eine breite Zielgruppe an und setzt gleichermaßen auf Kooperationen mit regionalen Marken wie dem lokalen kakigōri (mit Sirup übergossenes, geraspeltes Eis) als auch mit überregional bekannten Marken wie „Kumamon“, dem Maskottchen der Präfektur schlechthin.
Probleme wie stetig sinkende Bevölkerungszahlen und ein hoher Anteil an Personen über 65 Jahren sind in Japan seit Jahrzehnten bekannt. Von offizieller Seite versucht die japanische Regierung durch die Implementation von Strategien und Programmen diesen Entwicklungen entgegenzuwirken. Lokale Revitalisierungsgruppen (chiiki okoshi kyōryokutai) sowie auf touristische Vermarktung ausgelegte Verwaltungseinheiten (DMOs, destination management organisations) stellen nur einige Beispiele für diese Revitalisierungsbestrebungen dar.
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Unsere Redaktion besteht aus Studierenden der Japanologie Wien, die im Wintersemester 2022 die Lehrveranstaltung „Japanologie und Journalismus - Medienarbeit für Japanolog*innen“ absolvieren. So finden der Forschungsprozess und vor allem die Forschungs- ergebnisse als journalistische Neuinterpretation einen Platz auf dieser Website.
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