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Partizipative Projekte aus dem Bereich der Japanologie

9. Januar 2023 von Marco Marcel Hamr

Manga und Anime – Die Jugend im Visier der japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte

Die Werbemittel der JSDF – Ein „cooles“ Militär?

Die japanischen Selbstverteidigungskräfte JSDF nutzen seit über fünfzehn Jahren die Medien der Populärkultur (Manga und Anime) zu Informations- und Rekrutierungszwecken, die Kinder und Jugendliche als Zielpublikum haben. Neben einem jährlich erscheinenden Manga existiert auch ein kurzer Anime. Die gezeigten Inhalte setzen stark auf den üblichen Niedlichkeitsfaktor (kawaii), der mit Manga und Anime assoziiert wird, um militärische Inhalte zu erklären und auch um mögliche Bedrohungen für Land und Gesellschaft darzustellen. In Japan kommen die Medien in der Jugend offensichtlich gut an. Welche versteckten Botschaften hinter den bunten Bildern zu finden sind, und was das für die Zukunft der JSDF bedeutet, versuche ich im folgenden Artikel offenzulegen.

©Japanisches Verteidigungsministerium

Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg und der damit einhergehenden Verfassung von 1946 verzichtete die japanische Regierung auf das Recht Krieg zu führen. Das Militär wurde aufgelöst und verlor den fanatisch glorifizierten Stellenwert in der Bevölkerung, die laut den Historikern Maki und Nakamura als eine der militarisiertesten Gesellschaften des frühen 20. Jahrhunderts anzusehen war. Spätestens mit der Niederlage 1945 sowie der neuen, bis heute, gültigen Verfassung, sollte jeglichem Militarismus das Handwerk gelegt werden. Das neue Japan, eine deklariert pazifistische Nation. Doch 70 Jahre später scheint sich einiges verändert zu haben.

©Japanisches Verteidigungsministerium

Landesverteidigung im Taschenbuchformat

Jetpiloten, die alarmbedingt zu ihren Maschinen stürmen, Fallschirmjäger, die sich für ihren Absprung bereitmachen, sowie Raketen, die von einem Kriegsschiff abgefeuert werden – all dies bei lachenden Gesichtern und leuchtenden Kinderaugen. Wen dies verwundert, der muss nur nach Japan schauen; dort gehört ein solches Szenario zum Alltag: Kinder, die sich mit Begeisterung bunten Büchlein widmen, in denen es um Thematiken für Erwachsene geht. Dieser auf den ersten Blick widersprüchliche Anblick wird jedes Jahr aufs Neue vom japanischen Verteidigungsministerium ermöglicht. Unter dem Titel bōeihakushō erscheint seit dem Jahr 2006 eine jährliche Ausgabe des gleichnamigen Manga. Illustrationen, Effekte, Charaktere sowie eine Story: In ihrem Auftreten stehen die Werke über die JSDF (Japanese Self Defense Forces) in keiner Weise ihren „nicht militärischen“ Kollegen aus der Unterhaltungsindustrie nach. Doch kann man diese Publikationen miteinander vergleichen? Und wozu produziert ein Ministerium diese überhaupt?

©Japanisches Verteidigungsministerium

Die japanischen „Supermen & Superwomen“

Auf den ersten Blick unterscheidet sich die Mangaserie bōeihakushō nicht von anderen Werken der japanischen Populärkultur. Während bei herkömmlichen Werken der Populärkultur vor allem kommerzielle Interessen im Vordergrund stehen, haben die bōeihakushō eine ganz andere Intention. Doch welchen Zweck verfolgen diese Manga? Neben dem offensichtlichen Zweck der PR-Arbeit lassen sich aber noch andere, weit subtilere Absichten des JVM (Japanisches Verteidigungsministerium) in Design und Publikation der bōeihakushō ausmachen. In jeder Ausgabe steht ein militärisches Thema im Mittelpunkt, welches behandelt wird. Zunächst einmal können die Manga als genau das bezeichnet werden, was sie sind: Manga. Als Medien der Populärkultur sollen sie unterhalten und spannend sein. Wie diese Spannung erzeugt wird, folgt einem ähnlichen Schema wie bei Superman & Co.: Ein Gefahrenszenario tritt auf, welches dann durch das Wirken eines Superhelden entschärft wird. Dieses Muster zieht sich durch die gesamte Serie der bōeihakushō, wobei die JSDF wenig überraschend die Rolle des Superhelden einnehmen. Übermächtig, zu allem fähig und herzensgut – so zeigen sich die JSDF. Die Angehörigen des Militärs als Halbgötter in Grün, denen man zujubelt – so zumindest in den Manga. Und so wie es oft bei Superhelden der Fall ist, existieren auch die „Bösewichte“.

Mein Feind der Nachbar

Die Umsetzung des genannten Schemas ist in zweierlei Hinsicht interessant. Zum einen, werden die Bedrohungen niemals direkt angesprochen, sondern allgemeingehalten. Die Gefahr unbekannter Flugzeuge, die in den japanischen Luftraum eindringen würden, oder Schiffe ohne Landesfahne, die bedrohlich am Horizont erscheinen. Was zunächst als neutral und objektiv in der Benennung von Gefahren erscheint, lässt auf den zweiten Blick einige subtile Botschaften erkennen. Wenn von Gefahren die Rede ist, erscheint an mancher Stelle ein Globus, auf dem die VR China zu sehen ist. Die bedrohlichen Jets, welche in den Luftraum eindringen, ähneln in ihrer Darstellung dem russischen Modell SU-33, und dringen von Nordwest in den japanischen Luftraum ein. Der Subtext ist klar. Geschickt werden die Bedrohungs- und Feindbilder gezeigt, ohne sie beim Namen zu nennen. So werden Länder wie die Volksrepublik China, Nordkorea oder Russland niemals beim Namen genannt oder gezeigt. Im Gegensatz dazu zeichnen die Manga jedoch ein recht genaues Bild der tatsächlichen Gefahren mit klarem Bezug zu realen Ereignissen. Die Grenzstreitigkeiten zwischen Japan und China mit oftmals brenzligen Schiffskonfrontationen schlagen sich hier ebenso nieder, wie die Gefahr des nordkoreanischen Raketenprogrammes. Insbesondere seit dem ersten Überflug Japans durch eine nordkoreanische Rakete im Jahr 2017 wird dies als größte Gefahr für das Land thematisiert. Ballistische Raketen, die sich auf Karten stets aus Richtung Festland den japanischen Inseln nähern. Ganz im Stil: don’t tell – show.

Das Bild des weiblichen Samurais

Wer sich vor den oben genannten Bedrohungen fürchtet, muss nur einen Blick in den Manga aus dem Jahr 2019 werfen. Das Sujet: Die wichtige Rolle von Frauen im japanischen Militär. Hier steht zum ersten Mal eine Frau als Protagonistin im Fokus des Manga. Als Schülerin in der Oberstufe möchte sie dem Beispiel ihres großen Bruders folgen, Japan vor feindlichen Angriffen zu beschützen, und den JSDF beitreten. Auch hier lässt sich hinter dem oberflächlich als progressiv und erbaulich gestalteten Inhalt ein subtiler Kommentar von Rollenbildern feststellen. Soldatinnen treten stets in eher inaktiven, passiven Rollen innerhalb von Gebäuden auf, während die Männer aktiv an der frischen Luft agieren. Weiters zieht sich das Motiv des „großen Bruders“ quer durch die Ausgabe. Die kleine Schwester ist oftmals unentschlossen, bis ihr der große Bruder den Weg zeigt. Schließlich findet unsere Heldin einen Platz an einem Schreibtisch in der Abteilung für Raketenabwehr und Cyberkriminalität – ihr Bruder hingegen wird/ist Offizier in der Armee. Auch wenn Kinder die oben genannten Punkte noch nicht verstehen können, so bleibt ihnen wohl die subtile Botschaft indirekt im Gedächtnis. Bestehende traditionelle Konzepte werden verstärkt. Am Beispiel von Genderrollen ist die freie Entfaltung sowie Selbstinterpretation der eigenen Rolle im militärischen Kontext eine eher vorgegebene. Frauen werden in den JSDF wertgeschätzt sowie in ihrer Karrierewahl gefördert – sofern diese traditionellen Rollen entspricht. Abweichungen davon existieren keine. Kindern wird so vermittelt, welches Verhalten wünschenswert ist, sowie suggeriert, vor welcher Himmelsrichtung man sich zu fürchten habe.

Die Sendung mit dem Vogel – Militär einfach erklärt

Artikel 9 der japanischen Verfassung ächtet den Krieg als solchen und die Anwendung von Waffen überhaupt. Dadurch soll die Verwendung von Gewalt durch den Staat nach außen schon im Vorhinein unmöglich gemacht werden. Konkret:

(1) Im aufrichtigen Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für immer auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt als Mittel, internationale Streitigkeiten zu regeln.

(2) Um das im vorangehenden Absatz bezeichnete Ziel zu erreichen, werden niemals mehr Land-, See- und Luftstreitkräfte sowie andere Mittel zur Kriegsführung unterhalten werden. Das Recht des Staates auf Kriegführung wird nicht anerkannt.

Nach der vorherrschenden japanischen Rechtsmeinung ist die Selbstverteidigung von diesem Verbot nicht ausgeschlossen. Gewalt und sogar Krieg sind in der Form der Selbstverteidigung zulässig. Dafür wird aber auch ein ausführender Körper benötigt: Die JSDF…

Siehe Anmerkung am Beitragsende*

Seit dem Jahr 2015 erscheinen auch in unregelmäßigen Abständen Videos im Anime-Format. Als erster, und bekanntester Vertreter gilt das Video „ボーエもんの防衛だもん~よくわかる自衛隊 (zu Deutsch: Bo-Emons Verteidigungslektion – Das ABC der Selbstverteidigungs-

kräfte). Ähnlich dem bekannten deutschen Fernsehformat „Die Sendung mit der Maus“ erklärt der Vogelroboter den Kindern, wie Landesverteidigung funktioniert. Dies erfolgt am Beispiel von Abfangjägern, die jedes Flugzeug daran hindern könnten, in den japanischen Luftraum einzudringen, und dies auch mit Gewalt. Nach einer kurzen Erklärung der jeweiligen Teilstreitkräfte bezieht sich Bo-Emon auf die verschiedenen „anonymisierten“ Bedrohungen, die Japan betreffen könnten, und benennt zu jeder die sofortige Bekämpfung und Lösung durch die JSDF. Diese fällt in allen Fällen militärisch aus. Ein interessanter Umstand, da Japan eigentlich als pazifistische Nation auf Gewalt zur Konfliktbeilegung verzichtet hat – mit Ausnahme der JSDF zur Selbstverteidigung. Dennoch lässt sich recht wenig von einer propagiert pazifistischen Haltung in Bo-Emons Lektion wiederfinden. Die Anwendung von Gewalt als zulässiges Mittel wird weder hinterfragt noch in einem negativen Licht dargestellt. Eher projizieren die Werkzeuge des Krieges wie Panzer, Kriegsschiffe und Kampfjets ein fast Ehrfurcht erweckendes Gefühl bei den Kindern. Bo-Emon steht hier für eine absolute Autorität, die alles zu wissen scheint, und auf dessen Stimme man besser hören sollte.

Am besten mit derselben Euphorie wie im folgendem Abschnitt:

Die Rekruten von morgen?

Die Publikationen über die JSDF lassen sich schwer unter einen Hut bringen mit vergleichbaren Werken der Populärkultur sowie anderen Aussendungen von Regierungsbehörden. Klar ist, dass sie als Anwerbematerial verstanden werden können. Geschickt wird sich jener Medien bedient, mit welchen sich Kinder und Jugendliche ohnehin auseinandersetzen. Manga und Anime sind hier einzigartig in ihrem Effekt: Man erreicht die Zielgruppe in ihrer Freizeit durch Unterhaltung. Anders gesagt, die Kinder setzen sich gerne mit den bōeihakushō auseinander – sie machen Spaß. Die Hauptbotschaft ist dabei eindeutig: Wer Japan schützen möchte, geht zur JSDF! Die Herausgeber im JVM nehmen dabei – willentlich oder nicht – in Kauf, dass Inhalte wie Feindbilder, ein überholtes, konservatives Rollenverständnis der Geschlechter sowie eine glorifizierte Darstellung von militärischer Macht (siehe Bild unten) kommuniziert werden. Offizielle Zahlen hinsichtlich der Wirkung des „cool military“ lassen sich freilich nur schwer ausmachen. Da die Mitgliederzahl der JSDF (rund 150.000) trotz überalterter Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten konstant geblieben ist, kann man annehmen, dass die martialischen Büchlein und Filme rund um Vogelroboter „Boemon“ ihren Teil dazu beigetragen haben. Übrigens: Wen nun die Leselust gepackt haben sollte, die Anime und Manga sind sowohl in japanischer als auch englischer Sprache auf der Webseite des japanischen Verteidigungsministeriums verfügbar.

©Japanisches Verteidigungsministerium

*Über den letzten Absatz im Info-Kasten konnte kein Konsens zwischen Autor und Teamleiterin hergestellt werden. Judith Brandner legt Wert auf folgende Kontextualisierung:
Japans Heer definiert sich als Selbstverteidigungstruppe, JSDF. 2016 sind unter der rechtskonservativen Regierung Abe neue Sicherheitsgesetze in Kraft getreten, die Japan das Recht auf „kollektive Selbstverteidigung“ einräumen. Demnach dürfen die JSDF mobilisiert und ins Ausland geschickt werden, um einen Verbündeten (die USA) zu verteidigen, oder Länder anzugreifen, die Japans Sicherheit gefährden würden. Verfassungsrechtler*innen sehen darin eine Aushöhlung von Artikel 9.

Pressetext (verfasst im November 2022):

Japan ist in vielfacher Hinsicht ein Sonderfall, wenn es um militärische Angelegenheiten geht. Auf der einen Seite stehen das in der Verfassung verankerte Verbot des Krieges, das eindeutige Bekenntnis zu Pazifismus sowie eine tiefe Ablehnung militaristischer Tendenzen. Offiziell werden keine Streitkräfte unterhalten; Proteste gegen die Errichtung oder Unterhaltung von ausländischen (sowie japanischen) Militärbasen werden immer wieder laut. Auf der anderen Seite ist die japanische Populärkultur voll von Militärdarstellungen: Schulmädchen, die in dem Anime Girls und Panzer (jap. gāruzu ando pantsā ガールズ&パンツァー) in lustiger Manier Panzerschlachten austragen, oder junge Soldaten, die Japan mit modernen Waffen vor mittelalterlichen Drachen beschützen. Was die beiden gemeinsam haben? Sie bedienen sich stark militärischer Thematiken, sie sind Vertreter der japanischen Populärkultur – und sie sind beide beliebt. Viele von uns haben sie schon einmal gesehen: Niedliche Gestalten mit bunten Frisuren, großen Augen und nettem Auftreten. Die weltweit bekannten Zeichenstile, die in den japanischen Comics (Manga) sowie Videoproduktionen (Anime) Anwendung finden. Ob in Österreich oder in Japan, viele Kinder und Jugendliche erfreuen sich an den Medien der japanischen Populärkultur. Eben jene Beliebtheit ist es, die sich auch Behörden zu Nutze machen. Ob Warnschilder bei U-Bahnen, Gebrauchsanleitungen für technische Geräte sowie öffentliche Aussendungen von Regierungsbehörden – Manga in Japan sind keineswegs nur (etwas) für Kinder. Das japanische Militär (JSDF) setzt hierbei seit Jahrzehnten auf die beliebten Comics als Mittel der Selbstdarstellung und Präsentation gegenüber der japanischen Jugend. Und dies durchaus mit breitem Arsenal – neben einem jährlich erscheinenden Manga (manga de yomu bōeihakushō まんがで読む防衛白書) existiert auch ein eigens vom Verteidigungsministerium produzierter Anime-Kurzfilm. Ganz dem Zielpublikum entsprechend, werden die Rollen und Aufgaben der JSDF von dem kugelrunden Vogelroboter „Bo-emon“ in kindgerechter, einfacher Sprache vermittelt. Doch auch ernstere Themen werden in den Publikationen zur Sprache gebracht. Bedrohungen von außen werden geschickt durch Symbolik verschleiert. Tatsächliche Gefahren (und für Japan „gefährliche Länder“) werden dabei selbst nie benannt. Den Kindern wird vielmehr durch Suggestionen ein Eindruck davon vermittelt, wovor man sich zu fürchten habe. Wo dieser Suggestivstil an die Grenzen stößt, wird sich einer niedlich-autoritären Vogelfigur bedient, die auf jede Frage eine Antwort parat hat. Insbesondere Genderaspekte spielen in der populärkulturellen Darstellung der JSDF eine wichtige Rolle. Letztlich stehen neben den informativen Aspekten selbstverständlich auch Rekrutierungsabsichten. Absichten, die erst auf den zweiten Blick ersichtlich sind. Die Werke des japanischen Verteidigungsministeriums bedienen sich der Optik und des Formats eines Manga, um Kindern den Militärdienst schmackhaft zu machen. Sensible Themen, wie die Frage um die eigene Semi-Illegalität werden durch glorreiche Machtdarstellungen von militärischen Gerätschaften übertönt. Feindbilder wie die VR China oder Russland werden weder gezeigt noch benannt, doch durch gezielte Anspielungen stets unterschwellig kommuniziert. Und auch die Progressivität hinsichtlich der Geschlechterrollen kann in Frage gestellt werden. Wie und auf welche Art und Weise dies alles funktioniert, habe ich in meiner Forschung untersucht.

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