Diskussionen um die US-Militärpräsenz in Japan gibt es seit Beginn der Besatzungszeit gleich nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Verwaltung der Präfektur Okinawa war von 1945 bis 1972 in den Händen der USA. Die Streitfrage um die Verlegung der Marine Corps Air Station Futenma (MCAS Futenma) nach Henoko kam erstmals 1995 auf, und Bürgerbewegungen, die sich dagegen aussprachen, konnten 2009–10, während Yukio Hatoyamas Kandidatur und Amtszeit als Premierminister sogar auf politischen Rückenwind setzen. Den zentralen Konflikt im Videospiel „Yakuza 3“ (im Original 龍が如く3 Ryū ga Gotoku 3), das im März 2009 in Japan veröffentlicht wurde, stellt ebenfalls der Streit um den Bau einer weiteren US-Militärbasis in Okinawa dar.
In der japanologischen Forschung gibt es eine umfassende Menge an Werken, Journal- sowie Nachrichtenartikel zum Thema US-Militär, Japan und Okinawa. Die Streitpunkte und Diskussionen sind zahlreich, und eine Lösung zu finden scheint schwierig. In digitalen Spielen hingegen sind Okinawa – im Gegensatz etwa zu Tokyo, der anziehenden Großstadt – oder das Problem der amerikanischen Militärstützpunkte kaum ein Handlungsort oder -thema. Hier widme ich mich der sehr realen Debatte um die Futenma Air Station und der angestrebten Verlegung und dem ähnlichen Handlungsstrang in „Yakuza 3“ mit einem Vergleich.
Am 15. Mai 1972 wurde, nach der US-amerikanischen Besatzung, die Verwaltung von Okinawa an den Staat Japan zurückgegeben. Die USA nutzten den 27 Jahre langen Zeitraum gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945, um ihre Militärpräsenz in Japan auf- und auszubauen.
Die Präfektur Okinawa macht bloß einen kleinen Bruchteil der gesamten Landesfläche Japans aus und beherbergt weniger als 1 Prozent der japanischen Bevölkerung. Trotzdem befinden sich dort noch immer mehr als 70 Prozent der US-Militäreinrichtungen in Japan. Umwelt und Natur werden ebenfalls durch eine erhöhte Luftverschmutzung und den Bau von Militäreinrichtungen auf Privatgrund und Naturschutzgebiet belastet. Auch die Möglichkeit, die Inseln als Tourismusstandort auszubauen, und das wirtschaftliche Potenzial der Gegend so zu vermarkten, wird durch die US-Militärpräsenz beeinflusst. Allerdings leidet Okinawa, gleich vielen anderen ländlichen Gegenden, darunter, dass Personen aus den jüngeren Generationen in die Städte und auf die Hauptinseln Japans abwandern. Hohe Arbeitslosigkeit und ungünstige Lohnverhältnisse hemmen auch so Okinawas wirtschaftliche Entwicklung. Okinawas Dasein als iyashi no shima 癒しの島, „Insel der Heilung“, gilt kaum für die dort lebende und arbeitende Bevölkerung. Von Okinawas „3Ks“— kichi 基地, die (US-)Militärstützpunkte, kankō 観光, der Tourismus, und kōkyō jigyō 公共事業, die öffentlichen Gelder, die die Wirtschaftlichkeit der Präfektur bestimmen, haben unmittelbar nach der Rückgabe an Japan nur öffentliche Gelder wesentlich zum ökonomischen Wandel der Region beigetragen.
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Obwohl die Anwesenheit des US-Militärs nicht allein für die wirtschaftliche Lage Okinawas verantwortlich ist, so beeinträchtigt die Umweltverschmutzung, die von den Militärbasen ausgeht, doch auch das Ökosystem der Inseln. Probleme, die etwa die Verunreinigung von Land und Gewässern, sowie Abholzung und die Gefährdung bereits vom Aussterben bedrohter Tierarten aufwerfen, sind teilweise ungelöst. Dass die USA Haftung für solcherlei Schäden übernehmen soll, ist aber nicht im SOFA vorgesehen.
Das Status of Forces Agreement, kurz SOFA, wurde am 19. Januar 1960 von den beiden beteiligten Ländern unterzeichnet, um die Bedingungen der (militärischen) Zusammenarbeit zwischen Japan und den USA festzulegen. Allerdings wurden Japan darin kaum Möglichkeiten eingeräumt, die Aktivitäten des US-Militärs auf eigenem Grund und Boden zu regulieren. Neben vom US-Militär verursachten Umweltschäden und zahlreichen (Flug-)Unfällen, fallen so auch Straftaten von US-Militärpersonal nicht unter die Jurisdiktion Japans. Große Aufmerksamkeit erregt in diesem Zusammenhang ein Zwischenfall im Jahr 1995. Die Vergewaltigung eines 12-jährigen Mädchens durch US-Soldaten in Kin Town begründete damals die laute Forderung nach einer Neuregelung des SOFA. Trotz eines Schuldspruchs geht daraus jedoch keine Änderung des Abkommens hervor. Kompromisse zur US-Militärpräsenz in Okinawa, sowie zu den Inhalten des SOFA, wurden und werden immer wieder gesucht, jedoch schwer oder eben gar nicht gefunden.
Der Vorfall in Kin Town bestärkt nun nicht nur das Ansinnen einer Überarbeitung des SOFA, sondern resultiert schließlich in der Forderung der Verlegung der Futenma Air Station. Im Jahr 1996 ist das der Beginn einer der größten Debatten zum Thema US-Militär in Okinawa.
Konkrete Ideen, die eine Verlegung der Futenma Air Station ermöglichen sollten, werden Ende 1996 vorgestellt. Darunter gelten die Übersiedlung der Hubschrauberlandeplätze, jeweils an die Kadena Air Base und nach Camp Schwab – jedoch ebenfalls in der Präfektur Okinawa gelegen – und der Bau einer so genannten sea-based facility (kurz SBF) auf einer künstlichen Insel in Henoko in der Bucht Ōura, als gelungene Vorschläge. Allerdings formieren sich schon in den darauffolgenden Monaten Bürgerbewegungen aus Okinawa, die Einwände gegen das Bauvorhaben und den Standortwechsel des Stützpunktes an sich erheben. Zum „Comittee to Oppose the Heliport Construction and Demand the Democratisation of Nago City Government“ – kurz Hantaikyō – schließen sich bis zum Jahresende 1997 insgesamt 21 Gruppen zusammen. Auch südlich um Ginowan formieren sich Protestbewegung gegen eine Verlegung der Futenma Air Station nach Nago, da dies der Forderung widerspricht, das US-Militär gänzlich aus Okinawa auszuweisen. Eine Einigung kann nicht erreicht werden.
Den nächsten Höhepunkt erfährt die Diskussion um Futenma im Jahr 2009, mit der Amtszeit des damaligen Premierministers Yukio Hatoyama. Hatoyamas Wahlkampf zum Premier ist von dem Versprechen geprägt, dass er sich um die Verlegung der Futenma Air Station außerhalb der Präfektur Okinawa bemühen werde. Hatoyama gewinnt die Wahl zwar, scheitert aber letztendlich daran, konkrete Pläne für die Verlegung Futenmas um zu setzen. Allerdings erhält die Debatte dadurch endlich ihren festen Platz im Interesse der Zentralregierung Japans.
Die Ryū ga Gotoku-Serie, international unter dem Titel „Yakuza“ vermarktet, widmet sich regelmäßig dem Protagonisten Kazuma Kiryu, einem Ex-Yakuza. Die Spielreihe zeigt zuerst kein oder nur wenig Interesse daran, (inter-)nationale und politische Themen in die Spielhandlung einzuarbeiten. Spätere Einträge der Serie stellen solche Inhalte aber sogar in den Mittelpunkt der Story, wie etwa die Polizeikorruption in „Yakuza 4“, oder Manipulationsversuche in der Sport- und Unterhaltungsindustrie, sowie die Thematik der „Anti-Yakuza Gesetze“ in „Yakuza 5“. Die Hauptfigur Kiryu selbst kehrt nach einem Gefängnisaufenthalt dem organisierten Verbrechen den Rücken. Allerdings wird er doch immer wieder in die Machenschaften und Machtkämpfe der Yakuza involviert, was den primären Handlungsstrang der Spiele begründet.
In „Yakuza 3“ leitet Kiryu ein Waisenhaus und Hauptort der Handlung ist nun, statt Tokyo und der Großstadt-Atmosphäre, das idyllische Okinawa. Die Szenerie gleicht auf den ersten Blick der Werbung in einem Reiseführer. Neben Minispielen, wie Golf, Karaoke, Poker und Angeln, oder in Nebenmissionen (das sind spielbare Einheiten, die eigene Handlungsstränge verfolgen, die jedoch keinen weiteren Einfluss auf die Haupthandlung haben), kann man aus der third-person Perspektive die Welt des fiktiven Downtown Ryukyu und die unmittelbare Nachbarschaft genießen. Mit Kiryu geht man auf eine Art Erkundungstour, wobei man auf andere Bewohnern*innen des Bezirkes rund um das Waisenhaus trifft oder in der Markthalle in Downtown Ryukyu mit den Ladenbesitzer*innen redet. NPCs (non-player characters), wie etwa ein junger Mann, der in der tinsagu nu uta てぃんさぐぬ歌, „As the Rose Balsam Blooms“-Nebenmission das okinawanische Volkslied tinsagu nu hana てぃんさぐぬ花 singt, oder eine Dame in der Nebenmissions-Serie Kiryū ga eikaiwa ni chōsen 桐生が英会話に挑戦, „Let’s Learn English (1–4)“, die Kiryu dazu motiviert, Sprachübungen im Englischen zu machen, oder auch Urlaubsreisende in der Downtown-Gegend malen im kulturellen und sozialen Leben des fiktiven Ryukyu ein Bild, das dem wirklichen Okinawa nachempfunden ist. Aber eben auch die Zweifel und Sorgen im Zusammenhang mit dem unmittelbaren Vorhaben der japanischen Zentralregierung sprechen die NPCs an.
Bulimie im Anime „18if“ – Essstörungen in Japan
Posted on 5. Januar 2023 by Melissa Gatterbauer
Produziert vom Animationsstudio GONZO wurde dieses Werk im Jahr 2017 zum ersten Mal ausgestrahlt. Dieser Anime basiert auf der Media-Franchise The Art of 18, wozu auch mehrere Handy-Puzzle Spiele gehören.
Themen wie Depressionen und Mobbing finden hier jeweils innerhalb einer Episode einen Schauplatz. Mithilfe von dreizehn Episoden werden den Zuseher*innen so im audiovisuellen Format gesellschaftlich-heikle Themen nähergebracht. Interessant für uns ist jedoch vor allem die vierte Episode, wo die Bulimie thematisiert wird.
Der Plot im ganzen Anime verfolgt ein Narrativ mit surrealen Elementen: Mehrere junge Frauen befällt das „Dornröschen-Syndrom“ – gefangen in ihrem Schlaf. Konträr zum originalen Märchen liegt hier der Fokus auf der Traumwelt. Das Traum-Ebenbild manifestiert sich als „Hexe“ (warum die Produzenten hier genau „Hexen“ einbauen, ist ungewiss. Wahrscheinlich, um zu untermalen, dass diese Frauen sich in ihrem Traum böswillig verhalten). All das ausgelöst durch seelische Leiden in ihrer Realität. Jedoch gibt es einen Helden: Ein junger Mann namens Haruto ist der Retter dieser Mädchen. Und er soll sie aus dem Dornröschen-Schlaf befreien. Wie macht er das? Selbst gefangen in der Welt der Träume hüpft er durch Portale von Traum zu Traum; von Hexe zu Hexe. Anfänglich versteht er nicht, warum er dort gefangen ist, doch begreift der junge Mann schnell, dass es mit den Problemen der Hexen zu tun hat. Dabei hilft er ihnen Traumata zu ergründen und ihren Lebenssinn wiederzufinden. Dadurch erwachen diese aus ihrem ewigen Schlaf und beginnen ein neues Leben.
Die vierte Episode von „18if“ nimmt sich der „Hexe der Völlerei“ an. Eine junge Frau namens Airi, erkrankt an Bulimie. Tätig als Hobby-Model und Teilzeit-Köchin in einem Café. Alleingelassen von ihrem Ex-Freund, weil sie nicht dünn genug ist. Immerhin gibt es viel schlankere Mädchen in der Model-Branche. Ihr Selbstbild ist zerstört und in Einzelteile zerbrochen. Eine Lösung muss her: sofort. Was wäre mit einer strikteren Diät? Aber der Hunger wird immer stärker und stärker, worauf riesige Essattacken für Airi die Folge sind. Doch wie das Geschehene wieder ungeschehen machen? Ganz einfach: Alles wieder raus! Selbst-induziertes Erbrechen scheint der einzige Weg eine ungewollte Gewichtszunahme zu vermeiden. Während ihrer Ess-Brech-Attacken verfällt sie in einen Trance-ähnlichen Zustand. Die Folge ist ein Erwachen als Hexe in ihrer Traumwelt.
Die Bulimie (oder auch lat.: bulimia nervosa) ist eine Form von Essstörung. Auf Japanisch ist sie besser bekannt als shinkeisei taishokushō (z. Dt. „psychisch bedingtes Völlerei-Symptom“). Essstörungen sind typischerweise durch abnormales Essverhalten charakterisiert. Krampfhafte Verhaltens- und Denkweisen sind oftmals Teil davon. Geprägt durch ein Streben nach einem möglichst geringen Körpergewicht. Dies hat zumeist starke, mentale Leiden zufolge.
Die österreichische Psychologin Astrid Kathrein hat sich mit dieser Krankheit näher auseinandergesetzt: Bulimie zeichnet sich durch regelmäßige Ess-Brechattacken aus. Betroffene sind vor allem junge Frauen. Eine Diagnose erfolgt typischerweise, wenn drei Monate lang pro Woche zumindest zwei solcher Essanfälle einsetzen. Mit diesem Anfall geht eine starke Euphorie einher: Zucker- und fetthaltige Nahrung setzen enorme Mengen an glücksbringenden Hormonen frei. Es kommt einem Suchtverhalten gleich, aus dem man nur schwer auszubrechen vermag. Sind die oftmals tausenden Kalorien erstmals verschlungen, setzt die Stressreaktion ein. Eine Gewichtszunahme ist in diesem Moment die größte Angst. Durch das sogenannte purging („Reinigung“) soll das Essen, zumeist durch selbstinduziertes Erbrechen, wieder aus dem Körper verfrachtet werden. Alle Kalorien kann man dadurch aber nicht loswerden. Dies erklärt auch das häufige Normalgewicht von Bulimikerinnen.
Laut Kathrein sind die Ursachen einer Bulimie meist komplexer Natur: Einerseits kann Essen die innere Leere füllen. Man ist gelangweilt, hat nichts, auf das man sich freut; Essen ist hier das nächstbeste Mittel. Andererseits wirkt es auch Stress, bedingt durch z.B. neue Lebensabschnitte, kritische Familienverhältnisse, oder auch eine Unzufriedenheit mit dem eignen Körper entgegen.
Kathrein spricht hier von einem Teufelskreis: Durch Stress ausgelöste negative Emotionen werden mit Essen unterdrückt, das wiederum verstärkt das Gefühl des Kontrollverlustes. Dadurch entstehen erneut negative Gefühle und der Kreislauf beginnt von vorne. Das wirkliche Ausmaß der Essattacke ist oft nicht von Belang. Tatsache ist für Betroffene, dass es passiert ist. Für sie gibt es nur Perfektion oder Scheitern. Nur Schwarz oder Weiß. Und genau diese Einstellung ebnet den Weg in die Essstörung. Erkrankte fühlen sich dabei oft beschämt, neigen zur Verheimlichung. Eine stetige Angst, andere könnten eine potenzielle Gewichtszunahme erkennen. Auch will man dem gemeinsamen Essen entgehen, um zusätzliche Kalorien vermeiden zu können. Tag ein, Tag aus drehen sich die Gedanken nur um Kalorien. Am Ende steht die komplette, soziale Abschottung.
Gesellschaftliche Erwartungen sind der Wegbereiter für Essstörungen in Japan: Dazu gehören unter anderem ein gezügelter Appetit und eine dünne Figur. Beispielsweise das japanische Schulmädchen (shōjo) ist ein Symbol für kindliches Aussehen – in der Populärkultur vermarktet und fetischiert. Außerdem steht in Japan das Kollektiv über dem Individuum: Gibt es also persönliche Probleme, werden diese vor Freunden und Familie lieber verheimlicht. Wer Probleme hat, setzt nicht auf ein emphatisches Umfeld, sondern muss mit Gefühlen anders umgehen. Essstörungen können eine Folge daraus sein. Auch geht das Erwachsenwerden mit vielen Verpflichtungen und Sorgen einher. Hobbies und Freizeit muss man an den Nagel hängen. Junge Japanerinnen tendieren darauf meist zur Rebellion und sehnen sich zurück nach einer unbeschwerten Kindheit.
Die dänische Japanologin Gitte Marianne Hansen befasst sich in ihrer Forschung mit Japanischer Gender-Kultur und Literatur, mit Schwerpunkt auf Weiblichkeit in Japan. Dies wird in Verbindung mit Essstörungen in ihrem Werk Femininity, self-harm and eating disorders in japan: Navigating contradiction in narrative and visual culture thematisiert. Dort hat Hansen fünf Kernelemente der Denkweisen von japanischen Bulimikerinnen bestimmt: Onset, feeling dirty, over-performance, escape und the alien invader. Onset („Beginn“) beschreibt negative Stimulanzen, die das jeweilige selbstzerstörerische Routine-Verhalten auslösen. Feeling dirty („sich dreckig fühlen“) die Empfindung der Unreinheit. Essen wird als etwas Schmutziges angesehen. Je dicker man also ist, desto schmutziger ist man. Demnach auch die Formel: Je dünner, desto sauberer. Häufig kommen auch äußerliche Hygienemaßnahmen hinzu, wie eine sofortige Dusche oder Zähneputzen. Over-Performance („Mehrleistung“) meint den Drang zum Perfektionismus. Man überbeansprucht sich selbst und die Erwartungen an den eigenen Körper. Es entstehen Konfliktsituationen, wo der Körper sich nicht den Vorstellungen fügt. Betroffene tendieren so mehr und mehr dazu, das Problem geheim zu halten, und sich zurückzuziehen (escape). The alien invader beschreibt grob ausgedrückt den Körper selbst als Kerker. In diesem ist das Selbst gefangen. Somit wird der eigene Leib als Feind, bzw. als etwas Fremdes (Alien) angesehen. Man fühlt sich nicht wie sich selbst und muss das Fremde kontrollieren
Als Teil meiner Forschung habe ich die Darstellung der Bulimie im Anime „18if“ untersucht, mit der Methode der Filmanalyse – basierend auf dem Werk von Werner Faulstich Grundkurs Filmanalyse (2013). Der Anime hat eine interessante Herangehensweise: Es werden nicht nur konkrete Verhaltensweisen der Protagonistin gezeigt, sondern auch unterbewusste Gedankengänge visualisiert. So erhalten wir einen besonders tiefen Einblick in das Leben einer Japanischen Bulimikerin. Daraufhin bot es sich am ehesten an, zwei Sequenzen zu analysieren. Eine in Airis Realität, und eine in ihrer Traumwelt. Die Analyse selbst basiert auf den vier W-Fragen: Was, wer, wie und wozu. Mithilfe der Ergebnisse lassen sich anschließend Vergleiche zu Bulimikerinnen im realen Kontext Japans ziehen.
In diesem Abschnitt wird eine Ess-Brechattacke graphisch und schriftlich im Detail veranschaulicht.
Es ist bereits Abend. Das letzte Treffen mit ihrem Ex-Freund hat Airi nun hinter sich gebracht. Nun muss sie ihn nicht mehr sehen. Oder besser gesagt, er muss sie nicht mehr sehen. Immerhin war er derjenige, der Schluss gemacht hat. Seine letzten Worte scheinen die junge Frau nicht loszulassen: „Du bist nicht dünn genug.“ Diese Gedanken begleiten die Protagonistin den restlichen Abend lang. Welche Konsequenzen das hat, veranschaulicht diese Sequenz.
Alles ist dunkel. Bis auf das Licht des offenen Kühlschranks. Das Licht fällt auf zahlreiche, leere Fast-Food Verpackungen. Alles liegt verstreut am Boden. Die Küche ist menschenleer. Gezeigt werden Müllsäcke, die voll mit Essensresten sind. Die Reste der vorangegangenen Essattacke. Begleitet wird diese Szene von melancholischer, langsamer Klaviermusik. Was folgt, ist das purging.
Wir befinden uns nun im Badezimmer. Das Kühlschranklicht vom Nebenraum ist die einzige, schwache Lichtquelle. Was wir hier nun zu Gesicht bekommen, ist die Hauptfigur Airi. Der Wasserhahn läuft. Damit sollen Geräusche unterdrückt werden. Die Brechlaute darf immerhin niemand hören. Airi sitzt vor der Toilette. Abgestützt mit einem Arm am Klodeckel. Der Kopf Richtung Kloschüssel geneigt, leicht auf- und ab bewegend. Airi schiebt sich die Finger in den Rachen und löst den Brechreiz aus. Schwach ist ein schweres Schluchzen zu hören – man hört eine Flüssigkeit ins Klo fallen. Ihr Gesicht ist überströmt mit Tränen. Reste von Erbrochenem verunzieren ihren Mund. Die Augen sind unter ihrem Haar versteckt. Sie atmet schwer mit geöffnetem Mund. In der nächsten Szene ist Airis Spiegelbild als Hexe zu sehen. Umgedreht sichtbar im Klowasser. Die Klaviermusik wird ausgeblendet. Nochmals werden wir die Protagonistin als Hexe genauer in der zweiten Sequenz zu Gesicht bekommen.
Deutsche Untertitel ©Melissa Gatterbauer
Der nächste Schauplatz ist in Airis Traumwelt angesiedelt. Besser ausgedrückt, im Reich ihres Unterbewusstseins, wo sie als „Hexe der Völlerei“ agiert. Doch sie ist nicht allein, Haruto befindet sich in ihrer Gefangenschaft. Gefesselt an einem Donut ist er umgeben von einer chaotischen, farbenfrohen Welt: Der Himmel erstrahl in blau, gelb und rosa. Im Hintergrund sind mehrere Fahrbahnen zu sehen, die auf hohen Säulen platziert sind. Die Straßenlaternen haben ungewöhnliche Färbungen, wie pink und neon-gelb. Unter den Figuren erstreckt sich ein rot-schwarzer Weg im Karo-Muster. Verkehrt hängende Laternen in Regenbogen-Farben hängen vom Himmel herab. Mehrere weiße Glitzerpunkte verleihen der Atmosphäre ein magisches Flair. Die Hexe schwebt auf ihrem Zuckerstangen-ähnlichen Zauberstab (wie auf einem Hexenbesen) wenige Meter vor Harutos Gesicht. Ihr Aussehen gleicht dem eines kleinen Kindes: Ein kunterbuntes Kleid, violettes Haar und dazu rote Wangen.
Haruto bittet die Hexe, ihn von seinen Fesseln zu lösen. Verstörend wirkt darauf ihre Frage, ob sie ihn essen dürfe. „Hörst du mir überhaupt zu?“, erwidert Haruto verwirrt. Generell scheint die Protagonistin seine Worte nicht eindeutig wahrzunehmen und redet an ihm vorbei. „Ich bin die Königin des Donut-Landes“, antwortet sie lediglich heiter. Ihre Gedanken drehen sich nur um Donuts. Um mehr Süßigkeiten. All das würde sie gerne essen. Auch überhaupt kein Problem, denn hier in ihrem Reich muss sie sich um die gefürchtete Gewichtszunahme keine Sorgen machen. Glaubt sie zumindest am Anfang. Stetig schwindet ihr Lächeln und ihre Stimme macht einen zunehmend bedrückten Eindruck.
Es setzt nun schwere, langsame Klaviermusik ein, die sich über den restlichen Verlauf dieser Sequenz hin fortsetzt. Mittels verschiedenster Rückblenden kommen die Erinnerungen an die Realität zurück. Nun ist sich die Hexe nicht mehr sicher, ob sie alles essen kann, was sie will. Ihre Traumwelt bleibt ein Traum. Eine Wunschvorstellung ihres Unterbewusstseins. Wo ist denn nur ihre unbeschwerte Kindheit? Sie vermisst die Zeit, wo sie die leckeren Speisen ihrer Großmutter genießen konnte. Doch diese einstige Glückseligkeit lässt auch ihre Traumwelt scheinbar nicht zu. „Liebe“, erwähnt die Hexe unter all den aufgezählten Süßspeisen. Ist es also Liebe, das sie will? Liebe von ihrem Ex-Freund? Oder ihrer Großmutter?
Das Bild fängt an zu wackeln und scheint den Zusammenbruch der Welt anzudeuten. Plötzlich richtet die Hexe ihren Blick auf. Sie schaut mit panischen Gesichtszügen Haruto entgegen und schreit, ob sie ihn essen darf.
Interessant anzumerken ist zu Beginn, dass in der ersten Sequenz nicht der gesamte Ess-Brech-Zyklus in diesem Abschnitt veranschaulicht ist, sondern nur indirekte Andeutungen auf den Essanfall in der Küche. Die purging-Phase hingegen wird visuell präzise wiedergegeben. Vielleicht, um mehr Zeit der eigentlich schmerzvollen Phase widmen zu können.
Einige von Hansens beschriebenen Kernelementen sind hier wiederzufinden: Das onset ist ganz klar ihr Ex-Freund, der sie aufgrund ihrer Figur verlassen hat. Eine Verletzung ihres Selbstbewusstseins. Das geht zudem einher mit dem alien invader-Punkt. Anstatt das Essen in ihrem Magen verweilen zu lassen, setzt sie ihren Körper lieber den Strapazen durch die hochgewürgte Magensäure aus. Man kann also daraus den Schluss ziehen, dass Airi ihren Körper als etwas sieht, das kontrolliert werden muss. Auch könnte der feeling-dirty Aspekt hier eine Rolle spielen. Denn nicht nur Kontrolle, sondern auch das Gefühl der Unreinheit könnte ihren Drang zum purging mitverursacht haben. In puncto escape sticht hier ganz klar ihr Ebenbild als Hexe hervor. Die kindliche Form der Hexe ist ein Hinweis auf die Sehnsucht nach ihrer Kindheit – diese Sehnsucht empfinden auch oft Japans Bulimikerinnen. Der geöffnete Kühlschrank könnte ebenfalls eine indirekte Anspielung sein: Das einzige Licht fällt nur schwach durch den Spalt des geöffneten Kühlschranks. Der restliche Raum hingegen ist beinahe stockdunkel. Essen scheint das einzige Glück zu sein, dass Airi ihren Schmerz vergessen lässt. Demnach ist der Kühlschrank, wo besagtes Glück zu finden ist, im übertragenen Sinn die einzige Lichtquelle in ihrem Leben. Auch das dunkle Badezimmer, in dem sie allein ist, steht für ihren katastrophalen, mentalen Zustand. Die Tränen und ihr schwerer Atem untermalen dies zusätzlich.
In der zweiten Sequenz werden die Gedankengänge einer Bulimikerin intensiv visualisiert. Die kunterbunte Traumwelt sticht visuell als kompletter Gegenpol zu der düsteren Atmosphäre der ersten Sequenz hervor. Dies soll jedoch die Bulimie nicht verherrlichen, sondern Airis Wunsch nach einem unbeschwerten Leben verdeutlichen. Kein Verkehr auf den Fahrbahnen. Keine Menschenseele bis auf die Hexe. Ein Abbild ihrer sozialen Abstinenz? Durchaus könnte man das als Parallele zu Hansens Kernelement escape sehen. Süßspeisen, vorrangig Donuts, scheinen ihre Vorliebe zu sein. In Airis Realität (siehe erste Sequenz) waren es jedoch salzige Fast-Food Speisen, die in ihrer Küche vorzufinden waren. Vielleicht auch als Untermalung des Erwachsenen-Kind Gegenpols. Realität und Traum. Zudem könnte das Wort „Liebe“ Raum für mehrere Anspielungen bieten: Zuerst würde man wohl auf ihren Ex-Freund schließen, der der Auslöser ihrer Bulimie gewesen sein dürfte. Oder „Liebe“ als der Wunsch nach einem generell sozialen sicheren Netz? Freund*innen, die zuhören und mitfühlen können? Ein Wunsch, der durch Schamgefühle und soziale Abschottung unerfüllt bleibt.
Abschließend kann man sagen, dass diese Episode im Anime „18if“ belegt, was sich auch in der Literatur über Bulimie in Japan findet. Es finden nicht alle Aspekte der Sekundärliteratur Platz im Anime. Aber man sollte bedenken, dass es sich nur um eine Episode mit ca. 24 Minuten Zeitumfang handelt. Essstörungen sind eine komplexe Angelegenheit. Diese Krankheit kurz und bündig dazustellen, ist kein leichtes Unterfangen. Am Ende geht klar hervor, dass die Bulimie eine ernstzunehmende mentale Erkrankung ist.
Körperliche Schäden, die durch die Bulimie verursacht werden, wurden hingegen zur Gänze weggelassen. Diese Folge befasst sich also vorrangig mit der Psyche. Meiner Ansicht nach war der Traum als Schauplatz besonders geeignet. Der Traum ist ein Spiegel unseres Unterbewusstseins. Visuell heben die gewählten Farbkombinationen in jeder Sequenz jeweils unterschiedliche Bereiche hervor: Dunkle Farben stehen für Airis mentalen Schmerz und Abneigung gegenüber ihrem Körper. Knallige Farben zeigen ihr Bedürfnis nach einer unbeschwerten Kindheit. Vor allem durch den Einsatz von Dialogen in der zweiten Sequenz erhalten wir einen tiefen Einblick in ihre Gedanken. In die Gedanken japanischer Bulimikerinnen. Der Drang zur Verheimlichung. Der Schrei nach Hilfe. Der Wunsch nach Freiheit. All das in einer Frage: „Darf ich dich essen?“
Pressetext (verfasst im November 2022):
Die Bulimie (jap.: shinkeisei taishokushō) ist ein Wegbereiter für ein Dasein voller Angst, Depressionen und sozialer Abstinenz. Erkrankte wissen oftmals keinen Ausweg. Bulimie gilt nach wie vor als Tabuthema in Japan und kommt in der japanischen Populärkultur daher kaum vor. Doch es gibt auch Ausnahmen: Wie ich in meiner wissenschaftlichen Arbeit aufzeigen konnte, kommt das Thema im japanischen Anime „18if“ des Animationsstudios GONZO vor. Dieser nimmt sich vieler, verschiedenster gesellschaftlicher Problematiken an (Depression, Mobbing, etc.) und visualisiert diese jeweils in einer Episode. Mittels Filmanalyse wurden zunächst zwei aussagekräftige Szenen objektiv festgehalten. Dann habe ich durch eine tiefgründige Analyse versucht, versteckte Botschaften zu entdecken.
Eine Szene widmete sich hierbei konkret der Figur Airi – eine weibliche Bulimikerin, die Protagonistin. Aufgrund der Bemängelung ihres Ex-Freundes, dass sie nicht dünn genug sei, entwickelt Airi ein kritisches Selbstbild. Trotz ihrer schlanken Figur sieht sie sich selbst als ungenügend grazil und ertränkt ihren Kummer in ausgearteten Essattacken: Ein leergeräumter Kühlschrank mit Massen an Verpackungen am Boden zu nächtlicher Stunde und tausende Kalorien verschlungen innerhalb eines kurzen Zeitraums. Und dann, die „Reinigung“. Als Versuch, durch die aufgenommene Kalorienzufuhr nicht zuzunehmen, wird kurzerhand durch einen Finger im Hals der Brechreiz ausgelöst und das Geschehene im Badezimmer ungeschehen gemacht. Im Film wird Airi mit Tränen in den Augen in einem schlecht beleuchteten Raum dargestellt. Melancholische Klavierklänge untermalen zudem ihren mental schlechten Zustand.
Im Gegensatz dazu wird Airi in der zweiten Szene als „Hexe der Völlerei“ in Form eines kunterbunt angezogenen Kleinkindes gezeigt. Ihre Traumwelt in ebenfalls farbenfrohem Design ist voll von Essen und kalorienreichen Speisen. Mit einem Lächeln im Gesicht erfreut sie sich der Tatsache, dass sie essen kann, was sie will – eine Andeutung auf ihre Kindheit, wo sie unbesorgt die Gerichte ihrer Großmutter genoss. In Erinnerung an die zuvor beschriebene Szene verzieht sich jedoch ihr froher Blick zu einem ausdruckslosen Starren. Nun scheint sich Airi nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee sei zu essen, was man will. Daraufhin geht die verspielte Hintergrundmusik in eine dramatische Musik über und die Welt wird durch ein Erdbeben erschüttert.
Die Parallelen zu japanischen Bulimikerinnen im realen Kontext (beschrieben in wissenschaftlicher Sekundärliteratur) sind eindeutig: Der Wunsch, einen kindlichen Körper beibehalten zu können (um die sorgenlose Vergangenheit zu rekonstruieren), die Fetischierung junger Frauen mit kindlich-jugendlichem Körper in der Gesellschaft; die Vorgabe, nicht zu viel zu essen und so die Schlemmerei im Geheimen abhalten zu müssen, etc. Bulimie generell findet hier besonderen Ausdruck durch die typische kalorienreiche Essensaufnahme und die häufig angewandte Form der „Wiedergutmachung“ durch Erbrechen.
Als Ergebnis dieser Forschung konnte ich feststellen, dass es der nur ca. 24 Minuten dauernden Episode gut gelungen ist, das japanische Leidensbild von Bulimikerinnen ziemlich genau wiederzugeben. Der Anime ist somit ein Beispiel dafür, dem Publikum dieses heikle Thema einfühlsam, aber ohne zu kaschieren näherzubringen.
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Unsere Redaktion besteht aus Studierenden der Japanologie Wien, die im Wintersemester 2022 die Lehrveranstaltung „Japanologie und Journalismus - Medienarbeit für Japanolog*innen“ absolvieren. So finden der Forschungsprozess und vor allem die Forschungs- ergebnisse als journalistische Neuinterpretation einen Platz auf dieser Website.
150 Jahre Japanisch-Österreichische Beziehungen
Im Oktober 2019 jährt sich zum 150. Mal die Unterzeichnung des österreichisch-japanischen Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrags von 1869. Die Zeit markiert die Öffnung Japans nach mehr als 250-jähriger, selbstgewählter Isolation und Abschottung gegenüber dem Ausland (Edo-Zeit, 1600-1868).
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