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Partizipative Projekte aus dem Bereich der Japanologie

Das japanische Kaffeehaus: Ein Ort des Wohlbefindens?


Kaffeehaus Atmosphäre ©Mariana Rathbauer

Viele Leute suchen nach dem Sinn des Lebens, nach ihrem persönlichen ikigai. Sie gehen dafür auf lange Reisen um die Welt und in sich selbst. Auch die Wissenschaft beschäftigt schon lange die Frage, was das Leben für Menschen lebenswert macht. In dem sonst von ökonomischen und psychologischen Ansätzen geprägten Feld der Wohlbefindens-Forschung hat sich in den letzten Jahren ein neues Framework zur Erforschung von Wohlbefinden herauskristallisiert, das Ort, Zeit, Kultur und ihr Zusammenspiel als wichtige Faktoren im Wohlbefinden definiert, relational wellbeing. In diesem Kontext habe ich mir die Frage gestellt :
„Kann man ikigai (life worth living) im japanischen Kaffeehaus finden?“

Was ist das japanische Kaffeehaus und was macht es aus?

©Mariana Rathbauer

Am Rande des 20er Jahre Vergnügungsviertels shinsekai in Osaka, direkt an der Ecke zum Ausgang 3 des Bahnhofs Ebisucho, findet man ein kleines Kaffeehaus namens „Harness“. Aufkleber auf den Fenstern verkünden, dass es sich hier um einen „Tea Room“ handelt und auf der Speise- und Getränkekarte findet sich neben einem uiena kouhi – hier eine Melange mit Schlag, in vielen anderen japanischen Kaffeehäusern ein Einspänner – eine größere Selektion an Sandwiches, die einen eher britischen Eindruck vermitteln. Was auf den ersten Blick wie eine etwas seltsame Eigenheit wirken mag, ergibt, wenn man bedenkt, wie das Kaffeehaus nach Japan kam, jedoch sehr viel Sinn.

Woher kommt das japanische Kaffeehaus ? (Ein sehr kurzer Überblick)

Tei Ei-Kei – auf Japanisch auch bekannt als Nishimura Tsurukichi, Pionier des japanischen Kaffeehauses, erster „Kaffeehaus Meister Japans“ und Begründer des ersten japanischen Kaffeehauses – brachte in den frühen 1880er Jahren nach seiner Zeit als partyliebender Student in Übersee eine große Liebe zum Kaffee aus Amerika und eine große Leidenschaft für das Kaffeehaus aus England mit zurück nach Japan.

Nach etlichen Jahren und einer Reihe betrüblicher Ereignisse gründete er 1888 schließlich das „kahiichakan“ im Herzen von Ueno in Tokyo. Es war in seiner Art eigentlich mehr britischer Gentlemens Club als klassisches Kaffeehaus. Genau diese augenscheinliche Eigenheit, diese Vermischung der amerikanischen Kaffeekultur mit der englischen Kaffeehauskultur spiegelt die auch heute noch, für Japan so typische, heterogene Erscheinungsform ihres Kaffeehauses wider. Das kahiichakan war jedoch ähnlich wie sein Begründer leider nicht unbedingt vom Glück gesegnet. Nur fünf Jahre nach seiner Gründung ging es bankrott, zwei Jahre danach verstarb auch Tei Ei-Kei ausgerechnet in der amerikanischen Hauptstadt der Kaffeehauskultur, Seattle. Heute erinnert in Tokyo nur noch ein kleines Denkmal neben dem Hauptquartier von Sanyo Electric Tokyo in Ueno an ihn und seinen großen Traum.

Welche Arten von Kaffeehäusern gibt es in Japan?

Tei Ei-Keis Leben und sein Kaffeehaus mögen ein eher trauriges Ende gefunden haben. Tei Ei-Keis Traum, das Kaffeehaus in Japan zu verankern, dagegen hat sich erfüllt. Wie in Wien gibt es heutzutage auch in Japan Kaffeehäuser wie Sand am Meer und das in allen Formen und Farben. Das oben beschriebene „Harness“ ist übrigens ein ganz klassisches kissa (kissaten, wenn man ganz korrekt sein möchte), also das „klassische“ japanische Kaffeehaus. Aber man findet natürlich noch andere Arten von Kaffeehäusern, angefangen mit denen der großen Coffeeshop-Ketten wie sutaba, also „Starbucks“ über trendige kleine Specialty-Coffeeshops, die berühmten Katzen-, Hunde-, Hasen- und die ganzen anderen Tiercafés bis hin zu temporären Kleinoden der Themencafés, wie das „Sailor Moon Jubiläums Café“, das man letztes Jahr in Roppongi besuchen konnte.


©Mariana Rathbauer


In der „Alpenrose“ ©Mariana Rathbauer

Was treiben die Leute dort so?

In allen findet man ganz unterschiedliche Leute, die aus ganz unterschiedlichen Gründen im Kaffeehaus sitzen. Damit ist natürlich nicht gemeint, dass bestimmte Kaffeehausarten nur von bestimmten Leuten aufgesucht werden. In so gut wie jedem findet man sie: den Stammtisch der lokalen Friedhofsmafia, übernächtige Jus-Studierende, schultertief in Lernunterlagen und Fallbeispiele vergraben, junge und ältere Pärchen auf Dates, gestresste sarariiman, die zwischen zwei Terminen ihre Coffein-Batterie auffüllen. Alle miteinander haben auf den ersten Blick nicht besonders viel gemeinsam und doch sitzen sie alle im gleichen Kaffeehaus. Und obwohl die meisten Leute jeweils ihre eigenen Stammkaffeehäuser für verschiedene Gelegenheiten haben, ist dies keineswegs festgelegt.

Auch wenn jemand wie ich erste Dates immer ins moderne kissa beim Kyoto Manga Museum schleppen, den Katerkaffee beim „Tully’s“ in der Krankenhauspassage ums Eck vom Yoshida Campus holen, im „Starbucks“ im „Tsutaya Books“ neben dem Okazaki Park lernen und, wenn vom Heimweh gepackt, in die „Alpenrose“ schauen würde, können die Funktionen dieser Kaffeehäuser natürlich auch anders verteilt werden.

Warum sind die Kaffeehäuser dennoch EIN gemeinsamer Ort?

Man muss immer vorsichtig sein, wenn man Kaffeehäuser in Kategorien einteilt. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen ihnen und sie sind vielleicht auch auf verschiedene Dinge ausgelegt.

Die meisten Specialty-Coffeeshops zum Beispiel sind oft nicht für Stammtische geeignet – aber nur weil ein Buntstift zum Malen gedacht ist, kann man damit trotzdem den Einkaufszettel schreiben. Wer weiß, vielleicht hat man ihn gerne farbig kodiert – es könnte sich ja auch der Stammtisch der „Freunde der Arabica Bohne“ dort treffen. Vielleicht ist der Barista sogar der Vorsitzende.

Wenn man trotzdem definieren möchte, was das Kaffeehaus für einen sozialen und kulturellen Zweck erfüllt, kann man es so betrachten: „Was machen die Leute im Kaffeehaus?“ Die Antwort: „Alles“. Oder genauer: Alles, was sie nicht in der Arbeit, Uni, Schule etc., aber auch nicht zu Hause machen wollen. Im Kaffeehaus ist man, wie schon dieses schöne Wiener Sprichwort sagt: „Ned daham und do ned an der frischen Luft“.

Relational wellbeing – Was macht das Wohbefinden aus?

Wir sehen das Kaffeehaus als kulturell und sozial funktionale Einheit an und kommen damit zum nächsten Aspekt unserer Forschung, dem Wohlbefinden. Darüber gibt es zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten. Die Fragen, „Wie gut geht es den Menschen eigentlich?“, „Geht es manchen Menschen besser und manchen schlechter?“ und „Warum geht es Menschen eigentlich gut oder schlecht?“ beschäftigen Wissenschaftler*innen in unterschiedlichsten Disziplinen immer wieder. Seit Jahren gibt es in der Wohlbefindens-Forschung einen großen Überhang an ökonomischen und psychologischen Ansätzen. Die qualitative Sozialforschung hat jedoch das Thema bisher eher stiefmütterlich behandelt. Dabei würden dort ganz andere Dinge im Fokus stehen als bei den Wirtschaftswissenschaftler*innen und Mediziner*innen.

Der Zusammenhang zwischen Örtlichkeit, Zeit, Kultur und Wohlbefinden und warum man ihn erforscht

Es gibt aber Hoffnung in Form des Konzepts des relational wellbeing. Dieser relativ neue Ansatz, der in Zusammenarbeit von Forscher*innen unterschiedlichster sozialwissenschaftlicher Fächer wie Anthropologie, Soziologie, Geographie entstanden ist, besagt, dass Ort, Zeit und Kultur Einfluss auf das Wohlbefinden der Menschen haben und damit nicht „universell“ erforscht werden können. Die Idee ist, dass nur in Anbetracht dieser Faktoren Wohlbefinden zuverlässig so erforscht werden kann, dass dann auf dieser Forschungsbasis Policy-Vorschläge möglich werden.

Relational wellbeing ist damit ein Framework. Möchte man wissen, wie ein Ort das Wohlbefinden der Menschen beeinflusst, muss man sich ein Wohlbefindens-Konzept aussuchen, über das man den Rahmen von relational wellbeing spannen kann.


©Mariana Rathbauer

Ikigai

In diesem Fall ist das zugrundeliegende Konzept das japanische Wohlbefindens-Konzept ikigai. Ikigai – im Englischen mit „life worth living“ übersetzt – beschreibt das Gefühl, dass das eigene Leben einen Sinn hat. In Japan ist ikigai als Begriff sehr gängig. In der Lifestyle-Abteilung jedes japanischen Buchladens finden sich unzählige Ratgeber, wie man am besten sein ikigai findet.

Die zwei Arten von ikigai

Von ikigai gibt es nun auch wieder mehrere Arten. Also eigentlich zwei, ikigai-kan und ikigai-taishō. Ikigai-kan ist das Gefühl von ikigai, also das Gefühl von Lebenssinn. Ikigai-taishō dagegen ist das Ding oder die Person, die Entität, wenn man so will, die dem eigenen Leben Sinn verleiht. Leute beschreiben oft ihre Familie oder ihre Arbeit als ihr ikigai.

Die Erfahrung von ikigai

©Mariana Rathbauer

Da ikigai, bzw. ikigai-kan ein Gefühl ist, und man Gefühle erfährt, einfach nur, indem man lebt, kann natürlich auch ikigai erfahren werden. Das nennt sich auch keiken – Erfahrung. Ikigai-keiken ist eine sehr neue Konzeption von ikigai. Es beschreibt die verschiedenen Erfahrungen, die man machen kann und die das Gefühl von ikigai auslösen oder fördern. Bisher wurden diese Erfahrungen in vier verschiedene Gruppen eingeteilt: tanoshimi, ganbari, iyashi und shigeki. Tanoshimi – das Vergnügen – umfasst Erfahrungen, die Spaß machen, wie: sich mit Freunden treffen, essen gehen, Musik hören und Ähnliches.

Ganbari ist die Anstrengung. Dahinein fallen Aktivitäten, die anstrengend sind, sich am Ende aber doch irgendwie lohnen. Zum Beispiel, wenn die im Kaffeehaus büffelnden Jus-Studierenden dann ihren Fall im Moot Court gewinnen.

Iyashi ist der Komfort, in einer vertrauten Umgebung vertraute Dinge zu tun – jeden Mittwoch mit den immer gleichen, altbekannten Damen bei dem immer gleichen Kaffee mit den immer gleichen Sandwiches über die immer gleichen Leute zu tratschen. Und shigeki sind anregende neue Erfahrungen, wie vielleicht in einem fremden Kaffeehaus neue Ideen oder Leute kennenzulernen.

Ikigai im japanischen Kaffeehaus suchen

Sucht man also nach dem Sinn des Lebens, nach ikigai, muss man nicht weiter gehen als bis ins nächste Kaffeehaus und schon findet man ikigai (ikigai-keiken) im Überfluss. Auch Sie haben gerade vielleicht schon ikigai erfahren. Shigeki, wenn sie diesen Artikel zum ersten Mal lesen oder iyashi, wenn sie wieder einmal zu dem Artikel zurückkehren.

Und wer weiß, vielleicht fanden Sie das Lesen ein wenig anstrengend, aber dennoch lohnend oder hatten sogar Spaß dabei.

Schlusswort

Auf der Suche nach Wohlbefinden im japanischen Kaffeehaus kann man viele Wege gehen. Ich hoffe ich konnte Ihnen in diesem Artikel den von mir entwickelten Weg über den Zusammenhang von Ort und Wohlbefinden, wie es relational wellbeing beschreibt, in Kombination mit dem zugrundeliegenden Konzept des Erfahrens von ikigai, ikigai-keiken etwas näher bringen.

Pressetext (verfasst im November 2022):

Kann das (japanische) Kaffeehaus als Ort das Wohlbefinden der Menschen beeinflussen? Viele Leute, allen voran die Wiener*innen, würden diese Frage wohl, ohne zu zögern, bejahen. Tatsächlich gibt es zu dem Thema bisher erstaunlich wenig Forschung, dabei gäbe es durchaus wissenschaftliche Ansätze dafür. Einer wird hier genauer betrachtet. 

Wie auch in Wien hat das japanische Kaffeehaus viele Facetten, das klassische kissaten, die einheitlichen Coffee-Shop-Ketten, das gemütliche Katzencafé, die angesagten Specialty-Coffee-Shops oder auch die zahlreichen nerdigen Themen-Cafés. Alles sehr verschiedene Orte, die für verschiedene Menschen verschiedene Funktionen erfüllen. Auf den ersten Blick mag dies die unterschiedlichen Arten des Kaffeehauses voneinander trennen, bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass all diese Funktionen der Kaffeehäuser untrennbar miteinander verflochten sind. 

Manche Leute gehen für ein erstes Date vielleicht gerne in das unauffällige kissa unten an der Ecke, andere vielleicht ins Sailor-Moon und wieder andere wollen vielleicht mit einem Besuch in einem angesagten Indi-Coffee-Shop punkten. Manche Studenten vergraben sich zum Lernen am liebsten anonym in der Ecke eines großen Ketten Coffee-Shops, andere bevorzugen vielleicht die Gesellschaft von flauschigen Katzen. Keine dieser vielen Formen des japanischen Kaffeehauses hat eine einzige klar definierbare Funktion, weshalb es nur sinnvoll ist, alle miteinander als eine Einheit zu betrachten. 

Um diese Einheit des japanischen Kaffeehauses nun als Faktor im Wohlbefinden der Menschen zu betrachten, reicht es, durch die richtige Linse zu schauen. In diesem Fall ist diese Linse relational well-being. Das Konzept des relational well-being besagt, dass Ort, Zeit und kulturelles Umfeld Einfluss auf das Wohlbefinden haben. Darüber hinaus sollten unter relational well-being auch immer das lokale Verständnis von Wohlbefinden in Betracht gezogen werden. Was hier das japanische Wohlbefindens Konzept ikigai als Messlatte für das Wohlbefinden im Kaffeehaus ins Spiel bringt. Ikigai wird im Englischen oft übersetzt mit „life worth living”. Im Deutschen wird es oft mit dem Gefühl der Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens gleichgesetzt. Diese sehr allumfassenden Definitionen von ikigai übersehen oft, dass ikigai nicht nur eine statische Empfindung ist, die man entweder hat oder nicht, sondern ein facettenreiches Gefühl, das durch verschiedene Faktoren beeinflusst und aktiv erlebt werden kann. 

Dieses Erleben von ikigai wird als ikigai keiken bezeichnet und ist eine noch sehr neue Konzeption von ikigai. Sie wurde 2020 erstmals von den Freizeit-Forschern Shintaro Kono und Gordon J. Walker definiert. Kono und Walker definieren vier Komponenten von ikigai keiken: tanoshimi also Vergnügen (im Englischen als „enjoyment“ übersetzt), ganbari (Anstrengung oder „effort“), shigeki (Anregung oder „stimulation“) und iyashi (Entspannung oder „comfort“), die die Erfahrung des Gefühls von ikigai fördern können. Wenn man diese vier Komponenten genauer betrachtet, lassen sich schnell Verbindungen zu Erfahrungen, die intrinsisch mit einem Kaffeehausbesuch verbunden sind, herstellen.

Und so beantwortet sich die zu Anfang gestellte Frage: “Kann das (japanische) Kaffeehaus als Ort das Wohlbefinden der Menschen beeinflussen?”. Ja kann es! (Zumindest theoretisch.)

Minamiaso auf Youtube – Tourismusoffensive zur Belebung einer ländlichen Region

Die Tourismusoffensive in Minamiaso

Ländliche Orte in Japan sind durch negative Entwicklungen wie hohe Überalterungsraten zunehmend in ihrer Existenz bedroht. Als Gegenmaßnahme inszeniert sich Minamiaso auf der Plattform „YouTube“ als attraktives Reiseziel. Geworben wird hier mit reichhaltigen Naturlandschaften und wohltuendem Wasser, sowie der Ruhe, als Ausgleich zum hektischen Stadtleben. Minamiaso will eine junge Zielgruppe ansprechen, setzt auf Kooperationen mit lokalen Marken und zeigt uns den Charme ländlicher Gebiete auf.

Minamiaso auf dem YouTube-Kanal der Tourismusbehörde. ©Minamiaso Kankō-kyoku

Die ernste Realität im ländlichen Japan

Besonders das ländliche Japan ist von den Folgen des demographischen Wandels stark betroffen. Auch auf der Insel Kyūshū, im Ort Minamiaso, der sich in der Präfektur Kumamoto befindet und im Jahr 2005 durch den Zusammenschluss von drei Gemeinden entstanden ist, können diese Auswirkungen beobachtet werden: In den letzten Jahrzehnten sind hier sowohl die Bevölkerungszahl als auch die Geburtenrate stetig, über dem Landesdurchschnitt zurückgegangen. Die Zahlen verdeutlichen es: Bereits im Jahr 2017 war über ein Drittel der Bewohner*innen über 65 Jahre alt, während bei der letzten Erhebung Anfang Dezember 2022 bereits rund 43% dieser Altersgruppe angehörten. Von etwas über 10.000 Personen sind also fast 4.400 Personen mindestens 65 Jahre alt.

Blick auf Minamiaso vom Zug aus. ©Minamiaso Kankō-kyoku

Rettung naht? – staatliche Gegenmaßnahmen

Gefordert sind die lokalen und nationalen Entscheidungsträger*innen Japans. Orte wie Minamiaso werden als kaso chiiki (Gebiet mit abnehmender Bevölkerungszahl und hohen Überalterungsraten) klassifiziert und finden sich in ganz Japan. Durch – je nach Einstufung – unterschiedlich hoch dotierte Fördergelder soll hier Abhilfe geschaffen werden. Auch die sogenannte furusato nōzei („Heimatsteuer“; wohlhabendere Personen spenden einen gewissen Betrag an die Gemeinde und erhalten lokale Produkte als Ausgleich) zählt zu einem dieser Förderprogramme, und kommt in Minamiaso seit dem Jahr 2008 zum Einsatz. Seit 2017 gibt es das Programm der chiiki okoshi kyōryokutai (lokale Revitalisierungsgruppe; Personen aus urbanen Gebieten migrieren in ländliche Regionen und führen dort Projekte durch). Die Mitglieder dieser Gruppe sind online sehr präsent und kümmern sich neben Migrationsförderung auch um den Tourismus in Minamiaso. Seit dem 1. April 2017 ist die Tourismusbehörde in Minamiaso Teil eines staatlichen Vorhabens (unter dem Schlagwort kankō chiiki zukuri, „Tourismus-Regionalentwicklung“) zur Einrichtung von sogenannten destination management organisations (Verwaltungseinheiten zur touristischen Vermarktung) und kooperiert eng mit der lokalen Revitalisierungsgruppe.

PR-Video für den von einem Mitglied der lokalen Revitalisierungsgruppe betriebenen Fahrradverleih in Minamiaso.
©Minamiaso kankō-kyoku

Die wissenschaftliche Erforschung Minamiasos Selbstdarstellung

Im Zuge meiner Bachelorarbeit habe ich mir die Frage gestellt, wie Minamiasos Tourismusförderung in den sozialen Medien in der Praxis umgesetzt wird. Deswegen habe ich den aktiv betriebenen YouTube-Kanal der Tourismusbehörde verfügbar. ins Zentrum meiner Arbeit gestellt und Minamiasos Charakteristika, so wie sie uns durch diesen YouTube-Kanal vermittelt werden, herausgearbeitet. Wie sieht also die Praxis der Vermarktung einer kleinen Gemeinde aus, die sich in den Weiten des Internets in der Hoffnung auf Revitalisierung inszeniert? – Es folgt Minamiasos Tourismusoffensive.


Wir befinden uns im Süden der Aso-Region. Inmitten der Caldera des Aso-Vulkans. In der Ferne zeichnet sich der Vulkankrater ab. Uns umgeben Felder, Weideflächen, Radwege und kleine Quellen. In der Umgebung grasen einige Kühe.


Zurück zum Ursprung

Minamiaso muss sich als touristisches Reiseziel nicht neu erfinden. Aufgrund seiner reichhaltigen Naturlandschaft bestehen bereits genug urtümliche Schauplätze, die einen Besuch rechtfertigen. Minamiasos Natur – egal ob Bächlein oder Reisfeld – ist in allen YouTube-Videos omnipräsent und umrahmt die gezeigten Szenen. Sogleich entsteht bei uns die Assoziation mit einem idyllischen, inmitten der Natur gelegenen Reiseziel, das zum Staunen einlädt. Eine Assoziation, die den Betrachter*innen im Gedächtnis bleibt.

Akaushi, eine bekannte Rinderrasse der Aso-Region. © Minamiaso Kankō-kyoku

Die Natur in Minamiaso ist eng mit Religion und Spiritualität verbunden. Selten besuchte Schreine in Wäldern und bei Quellen vermitteln eine naturbelassene, mystische Region, die scheinbar mit Legenden einhergeht. Ein Beispiel ist die Legende von der Entstehung der Aso-Region:

Ein englischsprachiger Erzähler beschreibt die Legende der Entstehung der Aso-Region. ©Minamiaso kankō-kyoku

Als Reiseziel lebt Minamiaso von den tatsächlichen natürlichen Erscheinungen. Zur Veranschaulichung drei Zitate aus den Videos:

Mainen no tanoshimi ga aru. Man kann sich jedes Jahr an seiner Blüte erfreuen.“ Der über 400 Jahre alte isshingyō sakura (isshingyō-Kirschbaum) ist eine bekannte Sehenswürdigkeit der Aso-Region und vermittelt uns das Bild einer fruchtbaren Region und die lange Beständigkeit ihrer Naturlandschaft.

Sore de wa Aso no daishizen o dōzo! Hier hat man den besten Ausblick auf Asos großartige Naturlandschaft!“ Zwei Radfahrer zeigen uns den besten Aussichtspunkt, während sie zum Gipfel des Aso-Vulkans unterwegs sind. Der Aso-Vulkan stellt die Krönung dieser Naturlandschaft dar und repräsentiert die gesamte Aso-Region.

Mizu no umareru sato. Der Geburtsort des Wassers.“ Am einprägsamsten ist das Wasser in Minamiaso, wie uns dieser Zusatz in der Selbstbezeichnung der Gemeinde zu erkennen gibt. Das Wasser ist in vielen Lebensbereichen von Bedeutung: So werden die Felder damit bewässert; es wird verwendet, um lokale Produkte herzustellen und Aufnahmen im onsen (Thermalbad) unterstreichen, wie wohltuend das Wasser in Minamiaso ist.

Eine Radfahrerin befüllt ihre Trinkflasche bei einer Quelle. ©Minamiaso Kankō-kyoku

Die Naturlandschaft und das Wasser in Minamiaso sind von großer Bedeutung in der Erstellung eines wiederkennbaren Reisezieles. Reale Gefahren, die mit dieser Naturlandschaft einhergehen, wie der Ausbruch des Aso-Vulkans, werden uns aber in den YouTube-Videos nicht näher gebracht.

In der Ruhe liegt die Kraft

Auch Erholung und Entschleunigung sind bedeutende Eigenschaften von Minamiaso. Dies beginnt schon mit der Anreise, mit dem Zug, nach Minamiaso. Die Videos zeigen uns immer nur ein Gleis, auf dem eine Eisenbahn fährt – ein starker Kontrast zu Transportmitteln wie dem Shinkansen. Idyllische, kleine Bahnhöfe sind umgeben von Feldern, Bäumen oder abgelegenen Nebenstraßen und lassen uns einen romantisierten Blick auf dieses ländliche Gebiet werfen.

Nach der Shirakawa-Quelle benannte Haltestelle. ©Minamiaso Kankō-kyoku

Die YouTube-Videos präsentieren uns Minamiaso als den Ort, an welchem wir uns vollständig mit der Natur umgeben können: „Shizen to nakayoku nareru mura. Das Dorf, in dem man sich mit der Natur anfreunden kann.“

Ein ganzes Video widmet sich nur den „Plätzen zum Durchatmen“ (shinkokyū supotto) der Aso-Region. Natur und die damit einhergehende Ruhe stehen im Vordergrund. Es wird die gute Luftqualität betont und der Fokus auf das individuelle Wohlbefinden gelegt: „Kūki ga umasugi! Genki ni nareru! Die Luft ist so wohltuend, dass man gleich gesünder wird!“

Auch auf emotionaler Ebene wird uns die Schönheit der Natur nähergebracht: „Aso no dai panorama o kanjinagara. Man fühlt die Großartigkeit der Natur in der Aso-Region.“

Einige Plätze zum Durchatmen der Aso-Region. ©Minamiaso kankō-kyoku

Itsumo egao ni nareru o-ki ni hairi no supotto o megurimasu. Eine Reise zu den Plätzen, die uns immer ein Lächeln ins Gesicht zaubern.“ – Neben den Attraktionen der Region, die an sich schon eine Entschleunigung des hektischen Alltags darstellen, gibt es noch zusätzliche Möglichkeiten zur Entspannung und Erholung. Die Erholung in onsen und ryokan (japanisches Gästehaus) begleitet den Aufenthalt in Minamiaso und steigert scheinbar das Wohlbefinden seiner Besucher*innen.

Wo eigene Vorlieben nicht zu kurz kommen

Minamiaso lässt seinen Besucher*innen genügend Raum für individuelle Auslegungen diese Ortes als ihr persönliches Reiseziel. Das Fahrrad wird uns als ideales Transportmittel für Tourist*innen vorgestellt. Mit Leichtigkeit kann man so durch die Gemeinde radeln, das Gebiet selbstständig erkunden und die präferierten Ausflugsziele besuchen. Diese Ausflugsziele können traditionell bzw. geschichtsträchtig sein, wie etwa Schreine, oder modern und innovativ. In vielen Videos werden uns Orte vorgestellt, an welchen sich schöne Bilder für die Plattform „Instagram“ aufnehmen lassen, oder auch besondere Veranstaltungen, wie ein Lichterfest, das es erst seit einigen Jahren gibt. Dass hier eine tendenziell jüngere Zielgruppe angesprochen wird, ist vermutlich dem Medium „YouTube“ geschuldet.

Ein Besuch im onsen ist nur eine Facette, die das Reiseziel Minamiaso seinen Besucher*innen zu bieten hat.
©Minamiaso kankō-kyoku

Als Besucher*in steht es uns also frei zu entscheiden, welches Minamiaso wir besuchen möchten:

Minami-chan to arukitai Minamiaso.“ Das Minamiaso, in dem man mit Minami spazieren gehen will.
Insuta hae suru Minamiaso.“ Das Minamiaso, in dem man Bilder für Instagram aufnehmen kann.
Sekai ga ai suru Minamiaso.“ Das Minamiaso, das die Welt liebt.

Dies sind nur einige Facetten des Ortes. Minamiaso ist ein vielseitiges Reiseziel, welches seinen Besucher*innen keine bestimmte Ausrichtung vorschreibt. Tourist*innen dürfen „Minamiaso“ für sich selbst erkunden und dieses Reiseziel nach Belieben anpassen.

Gemeinsam sind wir stark

Minamiaso wird in den Videos als ein Ort dargestellt, an dem die Zusammenarbeit der Menschen zentral ist, sowohl in den Beziehungen der Lokalbevölkerung und der Betriebe als auch im Umgang mit seinen Besucher*innen. Zusammenarbeit sehen wir vor allem auf der Ebene der Betriebe. Für Tourist*innen ist dieses Gemeinschaftsgefühl die Einladung, Minamiaso zu besuchen und sich bei Bedarf auch selbst für die Region zu engagieren. Einheimische sprechen Empfehlungen für Sehenswürdigkeiten aus und stärken die emotionale Einbindung der Betrachter*innen in diese virtuelle Gemeinschaft. Eine Verbundenheit, wovon diese Vermarktung sicherlich profitiert.

Zusammenhalt finden wir nicht nur innerhalb von Minamiaso wieder: In zwei Videos werden Sehenswürdigkeiten in Orten außerhalb von Minamiaso – Takamori, Yamato und Nishihara – vorgestellt und es wird uns auch erklärt, dass diese Plätze nicht in Minamiaso liegen. Die Videos vermitteln uns kein Konkurrenzdenken zwischen diesen Orten, sondern sie werden als Minamiaso im weitesten Sinne dargestellt. Tourist*innen erhalten so ein zusätzliches Angebot, um das Reiseziel Minamiaso zu erweitern.

Die in der touristischen Vermarktung zusammenarbeitenden Orte. ©Minamiaso Kankō-kyoku

In diesem Handlungsgefüge eingebettet ist auch die Marke „Minamiasos sanftes Eis“ (Minamiaso no yasashii kōri), welche das kakigōri (mit Sirup übergossenes, geraspeltes Eis) in Minamiaso bezeichnet. Hier handelt es sich um eine Marke mit eigenem Logo, welche als Teil des Reiseziels Minamiaso existiert.

Ein PR-Video für „Minamiasos sanftes Eis“ (Minamiaso no yasashii kōri), das unterschiedliche Arten von kakigōri und die zugehörigen Cafés in Minamiaso und der Umgebung vorstellt. © Minamiaso Kankō-kyoku

Auf gleiche Weise existiert Minamiaso als Teil der Präfektur Kumamoto, welche für das Maskottchen Kumamon bekannt ist. In einigen Videos kann man dieses Maskottchen sehen.

„Kumamoto kite yokatta. Ich bin froh, nach Kumamoto gekommen zu sein.

Personen in den Videos erzählen uns, dass wir uns in der Präfektur Kumamoto befinden. So wie Takamori, Yamato und Nishihara Minamiaso als Reiseziel erweitern, wird klar, dass Minamiaso bei einem Besuch der Präfektur Kumamoto eine passende Erweiterung des eigenen Erlebnisses darstellt.

Nach den Sternen greifen

Die YouTube-Videos haben uns durch ein Reiseziel geführt, dass sich fernab von den Problemen des ländlichen Japans inszeniert. Dabei stellt Minamiaso nur ein Beispiel für Revitalisierungsbestrebungen dar, die wir in ähnlicher Form in vielen Teilen des ländlichen Japans wiederfinden können. In der Praxis arbeitet die touristische Vermarktung Minamiasos auf diesem Medium mit vier Ebenen. Anstatt sich neu zu erfinden, nutzt Minamiaso als Reiseziel jene Möglichkeiten, die bereits gegeben sind: Natur, Ruhe und Erholung. Darüber hinaus wird durch individuelle Schwerpunkte versucht, ein breiteres Zielpublikum anzusprechen und auch lokale Kooperationen werden hervorgehoben. Als Maßnahme zur Revitalisierung werden diese vier Aspekte in den YouTube-Videos verständlicherweise dafür genutzt, Minamiaso in bestmögliches Licht zu rücken und eine emotionale Bindung zu diesem Ort aufzubauen. Dass auch die urbanen Maßnahmen, die unter anderem vom Tourismusministerium durch die destination management organisations vorgegeben werden, trotzdem hier mitspielen, zeigen ebenfalls einige YouTube-Videos. Nicht nur Minamiaso als Reiseziel, sondern auch die furusato nōzei („Heimatssteuer“) wird auf dem YouTube-Kanal beworben – ein weiterer Revitalisierungsversuch.

Die Bewerbung von lokalen Produkten, die man durch das furusato nōzei-Programm im Gegenzug für Geldspenden als „Geschenk“ erhalten kann. ©Minamiaso Kankō-kyoku

In Minamiaso wird mehrfach versucht, sich den Negativentwicklungen zu stellen. Auf lokaler Ebene wird auch durch eine aktuelle Richtlinie das ambitionierte Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2023 durch Maßnahmen und Bestrebungen in unterschiedlichen Bereichen Minamiaso zu neuen Höhen zu verhelfen. Die Antwort auf die Frage, wie effektiv diese touristische Vermarktung für Minamiasos Revitalisierung ist, steht allerdings in den Sternen. Wie es mit Minamiaso, den kaso chiiki und dem gesamten ländlichen Japan tatsächlich weitergeht, kann erst die Zukunft zeigen.

(Die YouTube-Videos wurden dankenswerterweise von der Tourismusbehörde in Minamiaso zur Verfügung gestellt.)

Pressetext (verfasst im November 2022):

Ländliche Gebiete in Japan erfahren zunehmend Negativentwicklungen wie hohe Überalterungsraten und abnehmende Bevölkerungszahlen. Unter dem Schlagwort kankō chiiki zukuri („Tourismus-Regionalentwicklung“) forciert die japanische Regierung Maßnahmen, um diesen sozioökonomischen Rückgang mit Hilfe von touristischer Vermarktung zu bekämpfen. Die Umsetzung ist dabei den lokalen Behörden überlassen. So wird in der auf der Insel Kyūshū gelegenen Gemeinde Minamiaso, Präfektur Kumamoto, unter anderem auf die Videoplattform „Youtube“ zurückgegriffen. Die lokale Tourismusbehörde (Minamiaso Kankō-Kyoku) setzt auf diese multimediale Darstellung, um den Ort zu bewerben und nachhaltig zu fördern. Eine Darstellung, die ich im Zuge meiner Forschung genauer betrachtet habe: Kurzerhand wird hier aus einer ländlichen Gemeinde ein attraktives Reiseziel, das (japanische) Tourist*innen von nah und fern zu sich einlädt. 

Gelegen in der Caldera des berühmten Aso-Vulkans, überzeugt Minamiaso durch seine reichhaltige Naturlandschaft – von groß angelegten Weideflächen, über kleine, versteckte Quellen hinweg bis hin zum pompösen Vulkankrater lädt der Ort an jeder Ecke zum Innehalten und Staunen ein. Egal ob im Rahmen eines Besuches in einem der onsen (Thermalbäder) oder während einer Radtour entlang kleiner Bäche, auch die Erholung durch das wohltuende Wasser ist in seiner Videodarstellung omnipräsent und unterstreicht den langsamen Lebensstil, der als Ausgleich zum hektischen Stadtleben für das Reiseziel „Minamiaso“ ebenso charakteristisch ist. Minamiaso spricht durch seine Vielfalt eine breite Zielgruppe an und setzt gleichermaßen auf Kooperationen mit regionalen Marken wie dem lokalen kakigōri (mit Sirup übergossenes, geraspeltes Eis) als auch mit überregional bekannten Marken wie „Kumamon“, dem Maskottchen der Präfektur schlechthin. 

Probleme wie stetig sinkende Bevölkerungszahlen und ein hoher Anteil an Personen über 65 Jahren sind in Japan seit Jahrzehnten bekannt. Von offizieller Seite versucht die japanische Regierung durch die Implementation von Strategien und Programmen diesen Entwicklungen entgegenzuwirken. Lokale Revitalisierungsgruppen (chiiki okoshi kyōryokutai) sowie auf touristische Vermarktung ausgelegte Verwaltungseinheiten (DMOs, destination management organisations) stellen nur einige Beispiele für diese Revitalisierungsbestrebungen dar.

Skispringen im Wandel – Von Kasai bis Kobayashi

Zwei japanische Ikonen des Skisprungsports stehen für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Kasai Noriaki und Kobayashi Ryōyū! Wahre Meister ihres Sportes! Würde man 34 Jahre in die Vergangenheit reisen, so könnte man Kasai bereits beim Skispringen bewundern. Eine Zeit, in der noch ziemlich anders gesprungen wurde. Bis zum heutigen Tage trainiert der Publikumsliebling, unter anderem mit Kobayashi, welcher sich vor allem durch seine sportlichen Erfolge auszeichnet. Mit Athleten wie Kobayashi steht dem japanischen Skisprungsport eine erfolgreiche Ära bevor.

Der Fokus meiner Forschung lag darin, Artikel unterschiedlicher Nachrichtenplattformen zu analysieren. Dabei konnte ich Kasais große Beliebtheit nachweisen. Bei der Auswertung zeigte sich ebenfalls, dass in den letzten Jahren Kobayashi in den Mittelpunkt des Sportes sowie der Medien gerückt ist.

Größte Errungenschaften

Kasai Noriaki und Kobayashi Ryōyū, zwei der erfolgreichsten japanischen Skispringer. Einer bekannt dafür, scheinbar nie mit dem Skispringen aufhören zu wollen. Der Andere ist der leistungsstärkste Überflieger der letzten Jahre. Es gibt aber viele Sportler*innen, die den einen oder anderen Wettbewerb gewinnen. Also was zeichnet gerade diese beiden aus? Was waren (bisher) ihre größten sportlichen Errungenschaften?

Einer von Kasais herausragendsten Erfolge hat er sich über Jahrzehnte aktiven Skispringens erarbeitet. Beim Wettbewerb in Planica am 17.03.2016 absolvierte er seinen 500. Sprung im Weltcup. Niemand kann ihm bei dieser Anzahl an Antritten auch nur annähernd das Wasser reichen.

Kasai hat zu seinem 500. Sprung die Startnummer 500, trägt ein Trikot mit der 500 und bekommt eine kleinere Version davon für seine Tochter. ©Eurosport

Kobayashi konnte in den letzten Jahren außergewöhnlich viele Siege erringen, eine durchaus nennenswerte Leistung. Bei der Vierschanzentournee 2018/19 hat er es sogar geschafft, alle vier Wettbewerbe der Tournee zu gewinnen. Damit hat er sich den Grand Slam des Skisprungsports geholt. Eine Leistung, die in der gesamten Geschichte des Skispringens bisher nur zwei anderen Sportlern, Sven Hannawald und Kamil Stoch, gelungen ist.

Nach dem Sprung des deutschen Markus Eisenbichler auf den 5. Platz, ist Kobayashi der Tagessieg sowie der Grand Slam gewiss.

Kasais Skisprung-Ära

Als Kasai Ende der 80er Jahre im Weltcup anfing, wurde eine heutzutage als selbstverständlich angesehene Sprungtechnik, noch nicht von jedem Springer eingesetzt. Im Gegensatz zum ursprünglichen Parallel-Stil, bei dem mit parallel zueinander ausgerichteten Skiern geflogen wird, kam zu dieser Zeit der V-Stil auf. Nehmen die Skier während des Fluges die Form eines Vs an, so erhöht sich der Auftrieb und man springt weiter. Die Konstruktion neuer Schanzen änderte sich über die Jahre ebenfalls. Vor allem die Längen des Anlaufs und Hanges wurden erhöht, wodurch die Weiten beim Springen und vor allem Fliegen immer größer wurden.

Sprungschanze in Rodewisch (Deutschland), erbaut 1980. ©Artur Bała

Die Sprunganzüge wurden hingegen enger. Heutzutage wird streng kontrolliert, dass alle Anzüge hauteng anliegen. Bei Regelverstoß kommt es zur Disqualifizierung aus dem gerade stattfindenden Wettbewerb. Anzüge aus Kasais Anfangszeiten waren noch sichtbar weiter und lockerer.

Links Kasai bei den nordischen Skiweltmeisterschaften 1993 mit parallelen Skiern und voluminöseren Anzug.
Rechts Kasai bei den olympischen Winterspielen 2018 in Pyeongchang mit moderner Technik und Ausrüstung. ©アフロ

Doch nicht nur Ausrüstungen und Veranstaltungsorte wurden geändert und erweitert. 2011 wurde erstmals ein offizieller Weltcup für Frauen ausgetragen. Dass auch Frauen erfolgreich springen können, zeigt die Japanerin Takanashi Sara. Sie hat mit Abstand die meisten Einzelwettbewerbe (momentan 63) im gesamten Skisprungsport gewonnen. Im Vergleich dazu: der ebenfalls sehr erfolgreiche und bekannte österreichische Skispringer Gregor Schlierenzauer kommt auf 53 Siege.

Um Kasais lange und erfolgreiche Karriere nochmal zu verdeutlichen, hilft sicher folgendes Beispiel. Am ersten Platz der japanischen Mannschaft bei den Winterspielen 1998 in Nagano war Kasai nicht beteiligt. Dafür gewann er 1994 in Norwegen sowie exakt 20 Jahre später in Russland, olympisches Silber beim Teamspringen. 2014 wurde er auch beim olympischen Einzelspringen zweiter. Seine Karriere stellt eindrucksvoll eine Brücke zwischen dem damaligem und heutigem Skispringen dar.

Sieht man sich Kasais sportliche Leistungen über seine Karriere hinweg an, so sticht ein Aspekt hervor. Auch wenn einmal für zwei, drei Jahre seine Platzierungen nicht die besten waren, folgten darauf Phasen, in denen er wieder in Topform war. Die Saison 1992/93 schloss er etwa als 3. in der Gesamtweltcupwertung ab. Mitte der 90er gelang ihm so etwas nicht mehr. Doch beim Weltcup 1998/99 wurde er abermals 3. in der Gesamtwertung. Dieses Muster zeichnet sich über seine gesamte Karriere hinweg ab.

Kasais Platzierungen im Gesamtweltcup am Ende der jeweiligen Saison von 1991 bis 2020. ©FIS International Ski and Snowboard Federation

Ski and Snowboard Federation So kam es auch dazu, dass er nach seinen schlechtesten Jahren Anfang der 2010er, zwischen 2013 und 2017 seine erfolgreichste Phase hatte. Während dieses sportlichen Höhenflugs war Kasai bereits über 40 Jahre alt, was im Skispringen eine absolute Ausnahme darstellt.

Kasai und seine Teamkollegen beim Trainieren im Trainingslager auf Miyakojima im Mai 2022. ©Noriaki Kasai

Topleistungen der Legende

Einige Highlights dieser Ära waren insbesondere sein Sieg beim Skifliegen am Kulm 2014 und die zwei Silbermedaillen bei den olympischen Spielen im selben Jahr. Über die kommenden Saisonen sollte Kasai viele solide Platzierungen sowie einige Podiumsplätze erreichen können. So gelang es ihm mit Takanashi Sara, Itō Yūki und Takeuchi Taku, 2015 die Bronzemedaille beim Mixed-Teamspringen (Zwei Frauen, zwei Männer) der nordischen Skiweltmeisterschaften zu gewinnen. 2017 konnte Kasai noch einen guten 8. Platz bei der Raw Air (ein Teil des Weltcups, bestehenden aus sechs Wettbewerben) erlangen. In den darauffolgenden Jahren haben seine Platzierungen immer weiter abgenommen. Seinen bisher letzten Auftritt im Weltcup hatte er am 02.02.2020 in Sapporo. Aufgegeben hat Kasai den Sport aber nicht. Auch heute trainiert er noch und nimmt an Wettbewerben teil. Anfang 2022 konnte er bei einem nationalen Wettbewerb 7. werden. Keiner der anderen Teilnehmer war auch nur annähernd so alt wie er.

Jahrzehntelanger Publikumsliebling

Kasai Noriaki zeichnet sich nicht nur durch seine lange und erfolgreiche Karriere aus, sondern auch durch seine Beliebtheit in der Skisprung-Fangemeinde. Seine Omnipräsenz im Skisprungsport, nicht zuletzt auch sein sympathisches Auftreten, machten aus Kasai über die Jahre hinweg einen Publikumsliebling. Seine Fans kommen aber bei weitem nicht nur aus Japan. Wenn er einen guten Sprung hinlegt, freuen sich mit ihm alle anderen Sportler*innen und Zuseher*innen (ganz gleich welche Nationalität diese haben).

Nach einem Sprung von 197 Metern befördert Kasai sich nicht nur auf den 1. Platz. Er wird auch zum Rekordhalter für die älteste Person, die jemals einen Skisprung-Wettbewerb gewonnen hat. Daraufhin zollen ihm folgende Kollegen ihren Respekt: Gregor Schlierenzauer (AUT), Severin Freund (GER), Robert Kranjec (SLO), Peter Prevc (SLO), Michael Hayböck (AUT), Jurij Tepes (SLO) und Wolfgang Loitzl (AUT).

Gefördert wird dieses Phänomen einer grenzüberschreitenden Fangemeinschaft auch durch die Art und Weise, wie Skisprungwettbewerbe ausgetragen werden. In den meisten Fällen bestehen diese nämlich aus Einzelspringen. Schöne Sprünge zählen mehr als nationale Gewinne.

Im Zuge meiner Forschung habe ich Berichterstattungen mehrerer deutsch- und englischsprachiger Nachrichtenplattformen (von „Skispringen.com“ über „The Japan Times“ bis hin zu „Der Standard“) analysiert und ausgewertet. Während der Recherchearbeit, habe ich folgende Daten gesammelt: Anzahl der Artikel (je nach Quelle), Relevanz in Bezug auf Kasai und wie er dargestellt wird. In meiner wissenschaftlichen Arbeit konnte ich mit diesen Informationen aufzeigen, welches Bild die Medien von Kasai verbreiten. Die Berichterstattungen über ihn liegen zwischen neutral und sehr positiv, beinhalten nie beleidigende oder nationalistische Elemente und waren über den gesamten Zeitraum (27.11.2010 bis 08.02.2022) Großteils konstant. In vielen Artikeln wurde auch Kobayashi Ryōyū thematisiert. Dabei hat sich gezeigt, dass spätestens ab der Saison 2018/19 Kobayashi mehr als Kasai im Rampenlicht steht. Neben den offiziell publizierten Artikeln, habe ich auch die Kommentare von Online-Nutzer*innen begutachtet. In diesen Kommentarsektionen wird Kasai durchwegs positiv beurteilt. Repräsentativ für viele weitere Meinungsäußerungen stehen folgende Aussagen. So geht „nickmaxell“ davon aus, dass es in Österreich mindestens genauso viele Fans von Kasai gibt, wie in Japan. Anderen Beobachtungen von „dERpATRIOT“ zufolge soll der Jubel des Publikums bei einem in Österreich veranstaltetem Wettbewerb größer sein, wenn Kasai springt, als wenn ein Österreicher auftritt. Die Wirkung, die Kasai auf den Sport, die Berichterstattung und jeden einzelnen Skisprungfan hat, fasst „Hosenträgerträger“ prägnant zusammen „Noriaki Kasai – Nationalitäten werden angesichts seiner Leistungen einfach komplett irrelevant. Und das zu sehen, finde ich jedes Mal wieder schön.“ (nickmaxell 2015; dERpATRIOT 2015; Hosenträgerträger 2014).

Es gibt sogar Fan-Accounts auf sozialen Netzwerken und Lieder, die ihm gewidmet sind. Eines dieser Lieder trägt den Namen „Mr. Noriaki Kasai“. Es wurde von der finnischen Punkband „Van Dammes“ geschrieben und interpretiert. Das Lied beginnt mit folgendem Zitat Kasais aus einer Fernsehübertragung „I continue forever“. Im Text werden die persönlichen Erfahrungen von jemanden geschildert, der seit seiner Kindheit Kasai stets beim Skispringen bewundert.

Das Video zeigt Ausschnitte aus Kasais Karriere. Der Text zum Lied ist in der Videobeschreibung auf YouTube einzusehen. ©Van Dammes

Von diesem Lied gibt es nicht nur mehrere Covers auf YouTube, sondern es wurde auch in einer japanischen Fernsehsendung thematisiert. Die Verbreitung unter Fans und positiven Rezensionen des Liedes deuten darauf hin, dass der Text von „Mr. Noriaki Kasai“ die Erfahrung vieler Menschen widerspiegelt. Denn findet ein Skispringen mit Kasai statt, freuen sich viele Leute, drücken die Daumen und haben Hochachtung vor „der Legende“ Noriaki Kasai.


Aufnahme eines Sprungs von Kobayashi aus dem Jahre 2022. ©Ryōyū Kobayashi

Kobayashis Skisprung-Ära

Da Kasai in den letzten drei Jahren nicht für den Weltcup aufgestellt wurde, ist Kobayashi nun der Favorit. Mit Kobayashi steht und fällt die Hoffnung für eine glorreiche Zukunft des japanischen Skispringens. Zwar gibt es auch andere japanischer Springer*innen, die in den letzten Jahren gute Leistungen vorweisen konnten (wie Nakamura Naoki, Takanashi Sara, oder Satō Yukiya), doch seit Kobayashi in der Saison 2018/19 zum Überflieger wurde, begab sich Japans Skisprungkultur in eine Renaissance. Spätestens nachdem er sich Anfang 2019 den Grand Slam holen konnte, begann für ihn, seine Landsleute, sowie dem gesamten Skisprungsport, eine neue Ära.

Eine Ära, der Kasai als Trainingspartner und Mentor zwar noch beiwohnt, in der er (bisher) aber keine nennenswerten Ergebnisse verbuchen konnte. Strenge Richtlinien und genaue Kontrollen, damit alle Teilnehmer*innen möglichst gleich aufgestellt sind, gehören mehr dazu als je zuvor. Durch moderne Techniken, Materialen und vor allem Schanzen, kommt es immer wieder zu neuen Bestweiten. So erreichte der Österreicher Stefan Kraft 2017 beim Skifliegen in Vikersund den absoluten Weitenrekord von 253,5 Metern. Als Kasai mit dem Skispringen begann, lag der weiteste Sprung noch unter 200 Meter.

Kobayashi streckt den Pokal zu seinem Sieg des Gesamtweltcups der Saison 2018/19 in die Höhe. ©Ryōyū Kobayashi

King Kobayashi

Kobayashi Ryōyū gilt als Diamant, der mittlerweile geschliffen werden konnte. Durch aufmerksames Training mit seinem Trainer Janne Väätäinen, weisen Worten seines Kollegen Kasai und nicht zuletzt dem ehrlichen Spaß am Springen, konnte er die Form erlangen, mit der er so schnell so viel erreicht hat. Siege konnte er mittlerweile bei fast allen Wettbewerbsformen des Skisprung-Zirkus erzielen. Die Vierschanzentournee gewann er zweimal, einmal gelang ihm dabei der Grand Slam.

Den Gesamtweltcup hat er ebenfalls bereits zweimal gewonnen. Der Sieg am Ende des Weltcups 2019 war für ihn persönlich bis dahin seine schönste sportliche Erfahrung. Denn ihm gelang es als erstem, nicht europäischem Mann, den Weltcup für sich zu entscheiden. Am 11.03.2019, noch Wochen vor dem Ende der Saison, stand sein Sieg (aufgrund des großen Punktevorsprungs) bereits fest. Viele Menschen aus Japan verbinden mit diesem Datum nichts Positives. Denn 8 Jahre zuvor ereignete sich die sogenannte Dreifachkatastrophe im Nordosten von Japan. Kobayashi sieht an dieser Koinzidenz des Datums aber nichts Schlechtes. Vielmehr hofft er, dass Japaner*innen von nun an am 11.03. optimistisch und voller Hoffnung in eine positive Zukunft blicken können.

Bei den olympischen Winterspielen 2022 in Peking konnte er sowohl eine Silber- als auch eine Goldmedaille mitnehmen. Noch einige Woche zuvor hoffte Kobayashi inständig, dass ihm das Kunststück eines ersten Platzes bei den olympischen Winterspielen gelingen würde. Denn das letzte olympische Gold beim Skispringen lag für Japan über 20 Jahre zurück (das Mannschaftsspringen 1998). Um bei Wettbewerben mit derart viel Aufmerksamkeit gute Leistungen abzuliefern, muss Kobayashi nicht einfach nur gut Springen können. Ruhig zu bleiben und sich auf die Sprünge zu freuen, gehört auch dazu. Dies sind Fähigkeiten, die er von seinen Kollegen Kasai gelernt hat. Zum Start seiner erfolgreichen Phase war er das große Interesse der Medien alles andere als gewöhnt. Mittlerweile ist das für ihn aber auch zur Norm geworden.

Kobayashi gewinnt olympisches Gold, darauf hat Japan über 20 Jahre lang gewartet. ©Eurosport

All diese nennenswerten Erfolge werden Kobayashi, neben seiner jugendlichen Kraft sowie den Bemühungen der Trainer und Mentoren, auch seiner speziellen Absprungtechnik zugewiesen. Ihm gelingt es konstant, im Moment des Absprungs vom Schanzentisch keine Geschwindigkeit zu verlieren. Somit geht er, mit all dem im Anlauf aufgebauten Tempo, in die Flugphase über, so Andreas Goldberger. Nicht nur verhilft seine höhere Geschwindigkeit zu weiten Sprüngen, sondern auch zu einem stabileren Flug, ganz gleich woher der Wind weht. Kobayashis nicht ganz ungefährlicher Sprungstil, wird von dem ehemaligen deutschen Skispringer Sven Hannawald als nahezu perfekt beschrieben.

Generationenwechsel

Auch wenn er weiterhin trainiert, springt und Freude am Sport hat, lassen Kasais Ergebnisse der letzten Jahre nicht davon ausgehen, dass er in den Weltcup, bei einer Weltmeisterschaft, oder zu den olympischen Winterspielen, zurückkehren wird. Kobayashi wiederum sollte noch den Großteil seiner Laufbahn, und einige erfolgreiche Ereignisse, vor sich haben.

Nach nach dem Sieg von Kobayashi bei den olympischen Winterspielen 2022 auf der Normalschanze, gratuliert ihm sein Kollege Kasai. Dieser nahm an den Spielen zwar nicht Teil, fungierte aber als Kommentator fürs japanische Fernsehen. ©Ryōyū Kobayashi

Selbst mit seiner überdurchschnittlich langen Laufbahn kommt Kasai nicht an die Erfolge heran, die sich der 26-jährige Kobayashi innerhalb von sieben Jahren Springen, auf internationaler Bühne, erarbeitet hat. Umso mehr gilt es, Kasai seine Beharrlichkeit beim Skispringen anzurechnen. Die Fähigkeit, mit Springer*innen mithalten zu können, die halb so alt sind wie er selbst, hat außer ihm niemand. Dadurch, und wegen Kasais Willen, solange wie möglich, weiter zu springen, besteht noch immer eine (kleine) Chance auf die Rückkehr des Altmeisters. Immerhin kann er auch zusammen mit Kobayashi trainieren, da sie im gleichen Verein (Tsuchiya Home Ski Team) sind. So profitieren die beiden von den Stärken des jeweils anderen. Kasai hat die Möglichkeit, mit einem jungen Top-Springer zu trainieren. Kobayashi wiederum kann einiges von den Erfahrungen seines Kollegen mitnehmen. Sie ergänzen sich bei den Vorbereitungen bzw. beim Training, ihre Karrieren kann man aber wohl kaum vergleichen. Beide sind erstklassige Skispringer, die unterschiedliche Rekorde aufgestellt haben, die sobald niemand brechen wird. Ein Aspekt zeichnet Kasai und Kobayashi aber gleichermaßen aus. So wie Kasai in den letzten Jahrzehnten, gilt Kobayashi nun seit ein paar Jahren als der bekannteste und erfolgreichste männliche japanische Skispringer. Eine Gemeinsamkeit, welche die beiden auch nach Ende ihrer Skisprungkarriere verbinden wird.

Pressetext (verfasst im November 2022):

Brillante Leistungen, Alleinstellungsmerkmale, oder eine sehr lang andauernde Karriere – so machen sich Profisportler*innen meist einen Namen. Diese drei Eigenschaften treffen auch auf den japanischen Skispringer Kasai Noriaki zu. Der 1972 geborene Athlet war für rund 30 Jahre als Skispringer international aktiv. Seine Omnipräsenz im Skisprungsport, nicht zuletzt auch sein sympathisches Auftreten, machten aus Kasai über die Jahre einen Publikumsliebling. Dabei hat er nicht nur japanischen Fans. Bei einer guten Platzierung freuen sich alle anderen Springer*innen, Trainer*innen und Zuschauer*innen mit ihm, ob diese nun aus Japan, oder einer anderen Nation sind. Während seiner Laufbahn hat er nicht nur an etlichen Wettbewerben teilgenommen und viele gute Sprünge vollzogen, sondern auch Kollegen kommen und gehen sehen. Als Kasai Ende der 80er Jahre im Weltcup sprang, wurde der heutzutage als selbstverständlich angesehene Sprungstil, bei dem die Skier während des Fluges ein V formen, noch nicht von jedem Springer eingesetzt. Kasai startete seine Laufbahn noch mit dem ursprünglichen Parallel-Stil.

Doch nicht nur die Techniken der Athleten, sondern auch deren Ausrüstungen und Sprungweiten, die Schanzen von denen gesprungen wird, die Einführung eines Weltcups für Frauen, sowie die Aufmerksamkeit und Berichterstattung der Medien, haben sich seit dem Karrierebeginn von Kasai stark verändert. Immerhin erstreckt sich seine Laufbahn über knapp vier Jahrzehnte.

Während Kasai die letzten drei Jahre in Folge nicht für den Weltcup aufgestellt wurde, gibt es jüngst einen anderen Sportler des japanischen Kaders, der in aller Munde ist. Kobayashi Ryōyū ist vor allem wegen seiner herausragenden Leistungen bekannt. Er erlangte gute Platzierungen und Siege bei Wettbewerben wie beispielsweise der Vierschanzentournee 2018/19, dem Gesamtweltcup 2021/22, oder den olympischen Winterspielen 2022. Manche dieser Platzierungen und Leistungen, die der 26-jährige innerhalb von sechs Jahren erreichte, kann selbst Kasai in seiner (bisherigen) Laufbahn nicht vorzeigen. Nichtsdestotrotz zeichnet ihn seine Beharrlichkeit beim Springen aus, insbesondere jedoch seine Fähigkeit mit Springer*innen mithalten zu können, die halb so alt sind wie er selbst. Da die beiden Sportler demselben Verein angehören und zusammen trainieren, profitieren sie von den Stärken des jeweils anderen.

Das Ziel meiner Forschung war es herauszufinden, wie der Skispringer Kasai Noriaki in der medialen Berichterstattung dargestellt wird. Konkret wurden dabei westliche Medien untersucht, vor allem deutschsprachige Nachrichtenplattformen wie etwa „Der Standard“, „Skispringen.com“, oder die „Neue Züricher Zeitung“. Im Zuge der Arbeit konnte festgestellt werden, dass Kasai fast ausnahmslos positiv dargestellt wird, unabhängig vom Ursprung des Beitrags, oder der momentanen Leistung des Sportlers. Zudem deckte die Recherche einen interessanten Zusammenhang auf, der nicht Teil der Forschungsfrage selbst war. Innerhalb der letzten Jahre hat Kobayashi eine ähnliche Stellung eingenommen, wie sie Kasai einst innehatte – nämlich die des bekanntesten japanischen Skispringers.

Wie sich Kobayashi und der Sport des Skispringens in Zukunft noch entwickeln werden, steht in den Sternen. Grundlegende Änderungen in der Sportart, wie es sie in der Vergangenheit immer wieder gab, zeichnen sich (zumindest momentan) nicht ab. Doch wenn uns die letzten gut 30 Jahre eines gezeigt haben, dann, dass das Skispringen weiterhin spannende Entwicklungen und herausragende Persönlichkeiten hervorbringen wird.

Sprechen Sie Japanisch? – Rollensprache in Manga und Anime

Vielen sind Manga und Anime sicherlich ein Begriff. Weniger bekannt sind zumeist die verschiedenen Sprachstile, die dort verwendet werden. Das hat auch einen guten Grund: Sie sind oftmals kaum übersetzbar und fest in der japanischen Sprachkultur verwurzelt. Diese Sprachstile, die in der Forschung unter dem Begriff Rollensprache (yakuwari-go) zusammengefasst werden, werden aus letzterem Grund von Japaner*innen auch meistens nicht aktiv wahrgenommen. Meine Erfahrung mit Japaner*innen hat gezeigt, dass ein fragender Blick als Antwort kommt, wenn man die Rollensprache anspricht. Um dem auf den Grund zu gehen habe ich mich in meiner Forschung mit den Hintergründen der Rollensprache auseinandergesetzt. Die Antwort liegt in der Geschichte von Anime und Manga und deren Ursprüngen.

Was Männer zu Männern und Frauen zu Frauen macht

Oftmals erkennt man anhand der Rollensprache Geschlecht, Alter und den sozialen Stand des Charakters. Dabei ist Japaner*innen vollkommen klar, was sprachlich Männer zu Männern und was Frauen zu Frauen macht. Das erste Beispiel zeigt fünf Charaktere verschiedenen Alters und Geschlechts. Wenn man als Beispiel den Satz “Ich weiß es/das“ hernimmt, so kann man ihn auf Japanisch auf folgende Arten ausdrücken:

a. わしが知っておるんじゃ。(washi ga shitteorunja)
b. あたしが知ってるわ (atashi ga shitteru wa)
c. 俺が知ってるぜ (ore ga shitteru ze)
d. あたくしがご存知ております (atakushi ga go-zonjiteorimasu)
e. 僕が知ってるのさ (boku ga shitteru no sa)

Abbildung 1 - ©Kinsui 2003

Jeder dieser Sätze hat inhaltlich die gleiche Bedeutung. Deren stilistische Form ist aber, bis auf wenige gemeinsame Nenner, sehr verschieden. Worin sie sich genau unterscheiden, kann man aber kategorisieren. So sind beispielsweise die Personalpronomen der ersten Person („Ich“) bei allen bis zu einem gewissen Grad verschieden. Das im japanischen Sprachunterricht oft besprochene watashi kommt überhaupt nicht vor, obwohl es im alltäglichen Gebrauch unter Personen, die sich nicht gut kennen oder eine gewisse hierarchische Beziehung zueinander haben, gang und gäbe ist. Darüber hinaus sind auch die Endungen der Sätze ganz verschieden. Von den fünf Beispielen hat eines einen starken Bezug zur Alltagssprache, Beispiel b. Dieses ist zwar, durch die Verwendung von atashi und wa am Ende des Satzes, stark weiblich konnotiert, kommt aber in solcher Form auch im Alltag vor. Man kann also davon ausgehen, dass diese Sprachstile nicht zur Gänze aus der Luft gegriffen sind. Professor Kinsui Satoshi von der Universität Osaka hat den Begriff yakuwari-go (Rollensprache) in seinem Buch „Virtual Japanese: Enigmas of Role Language“ geprägt. In seinem mittlerweile auch ins Englische übersetzten Werk versucht er die Rollensprache zu kategorisieren und ihr auf den Grund zu gehen. Er fasst sie wie folgt zusammen:

Rollensprache […] ist eine charakteristische Sprechweise; sie hat eine besondere Reihe von Merkmalen der gesprochenen Sprache, die Vokabular, Grammatik und Aussprache umfassen, die den sozialen und kulturellen Stereotypen des Sprechers entsprechen. (Übersetzt aus Kinsui 2017: iii)

Kurzgesagt beschreibt Kinsui damit sprachliche Stereotypen. Diese Stereotypen, wie alle anderen, basieren auf (Halb-)Wahrheiten, die sich über die Zeit gefestigt haben und heute eine kennzeichnende (indexikalisierende) Funktion haben.

Mukashi Mukashi (Es war einmal)

Die Entstehungsgeschichte von Manga geht auf die emakimono des 13. Jhdt. zurück. Diese Schriftrollen bestanden, wie in Abbildung 2 zu sehen, aus einem Textteil und einem Bildteil. Sie dienten im 7. Jhdt. zunächst der Dokumentation des Alltagslebens und der Landschaft in Japan.

Abbildung 2 - Format eines emakimono ©Masanori Aoyagi 1937

Bis zum 13. Jhdt. entwickelte sich ein eigener Stil, dem das emakimono der Tierkarikaturen (chōju-giga) entstammt. Die Schriftrolle zeigt chronologische Sequenzen von verschiedenen tierischen und menschlichen Charakteren, die sich vergnügen. Es sollte aber noch bis zur Edo-Periode (1603-1867) dauern, bis ganze Bücher mit Karikaturen erscheinen. Zu diesem Zeitpunkt gab es aber noch keine strukturierten Geschichten, die mit dem Medium der Karikatur-Bücher erzählt wurden. Das heute für Japan typische Manga-Konzept, mit sequenzierten Bildfolgen und Text ganze Geschichten zu erzählen, fasste erst während der amerikanischen Okkupation 1945-1952 Fuß. Hier setzt Kinsui mit seiner Analyse an. Bereits in den bekanntesten Titeln der Nachkriegszeit zeichnet sich die Rollensprache ab. Ein bekannter Vertreter hier ist Ochanomizu-hakase (wörtl. Professor Teewasser) aus dem Manga tetsuwan atomu, der im Westen unter dem Namen Astro Boy erschienen ist. Ochanomizu-hakase ist ein rundlicher, alter Mann mit einer großen Nase und weißen Haaren. Die Beispiele 2 und 3 zeigen eine Szene aus dem 1982 erschienenen Astro Boy Anime. Ochanomizu-hakase sitzt mit Astro im Auto und stellt ihm einen alten Kollegen vor.

©Tezuka Productions 1982

ハハハ、先生だけあってなかなか名演説じゃったの
(Hahaha sensei dake atte naka naka meienzetsu jatta no)
Hahaha, du findest immer die richtigen Worte.


そうじゃったアトム、まだ紹介してなかった。わしの古くからの友人でヒゲ・オヤジと言う
(sou ja atomu, mada shōkai shitenakatta. Washi no furuku kara no yūjin de hige oyaji to iu)
Ach ja, Atom, das ist mein alter Freund, Hige Oyaji.

Wenn man sich die Tabelle von oben nochmal ansieht, merkt man schnell, dass Ochanomizu-hakase ähnlich wie Person b. aus dem oberen Beispiel spricht. Er stellt somit den Charakter des „weisen alten Mannes“ oder „Professors“ dar. Das trifft auch auf sein Äußeres zu. Ein anderes berühmtes Beispiel stammt aus dem knapp dreißig Jahre später erschienenen Manga Dragon Ball. Meister Rōshi, auch kame sennin (wörtl. Schildkröteneinsiedler) genannt, spricht kaum anders als Ochanomizu-hakase, obwohl sie verschiedener kaum sein könnten. Rōshis legere, teils auch perverse Art sollte ihm jegliche Professionalität oder Glaubwürdigkeit entziehen. Trotzdem nimmt er im Manga Dragon Ball die Position eines Großmeisters ein, der Goku und anderen vieles beibringt. Aus diesem Grund ist seine Sprechweise mit Ausdrücken wie washi und ja, wie sie in Abbildung 3? zu sehen ist, doch stimmig für das Publikum.

Abbildung 3 – ©Weekly Shonen Jump 1985

Übersetzung ist nicht gleich Übersetzung

Das Übersetzen von Manga und Anime stellt daher eine große Herausforderung dar. Zunächst muss man sich bewusst sein, dass eine objektive Übersetzung gar nicht möglich ist, da jede Translation ein Interpretationsprozess ist. Jede*r Übersetzer*in geht mit einem gewissen Vorwissen und vor allem mit der notwendigen Kompetenz in der Zielsprache an einen Text heran. Die meisten Übersetzer*innen versuchen eine möglichst originalgetreue Übersetzung anzufertigen. Dabei stößt man immer wieder auf Herausforderungen. Wie geht man beispielsweise mit Metaphern, Sprichwörtern oder Wortwitzen um? Wie geht man dem kollektiven Wissen um, das dem Kulturraum, aus dem das Originalwerk stammt, inhärent ist? Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, einen Charakter allein durch seine oder ihre Art zu sprechen, zu definieren. Das stellt ein sehr großes Problem beim Übersetzen von japanischen Anime, Manga und auch Spielen dar. Diese Hürden müssen mit kreativen Tricks und Herangehensweisen umgangen werden. Wie wir im weiteren Verlauf sehen werden, muss man sich manchmal auch damit zufriedengeben, dass nur freie Übersetzungen möglich sind.

Die Qual der Wortwahl

Abbildung 4 ©Weekly Morning 2005
Abbildung 5 mit Übersetzung des Autors

Die Frage ist, wie kann oder soll man mit der Rollensprache in Übersetzungen umgehen? Es ist wichtig, nicht außer acht zu lassen, dass es Rollensprache nicht nur im Japanischen gibt. Ein Beispiel dafür auf Deutsch wären die „Rittersprache“ oder die „Piratensprache“. Viele kennen typische Ausdrücke wie „Arr, über die Planke mit ihm!“ oder „Holde Maid! Ich kam zu Eurer Not!“. Wir haben also bereits einige Werkzeuge, mit denen wir beim Übersetzen arbeiten können, oder? Abbildung 4 zeigt einen Ausschnitt aus dem Manga Hyōge Mono, der in der frühen Edo-Zeit (17. Jhdt.) spielt. Die Charaktere benutzen die Samurai-Rollensprache. Diese ist hauptsächlich gekennzeichnet von Begriffen wie soregashi oder sessha, was „Ich“ heißt und grammatikalischen Formen wie nu statt dem heute verwendeten nai bei Verneinungen oder gazaru statt desu bei der Kopula. Eine mögliche Übersetzung ist in Abbildung 5 zu finden. Hier wurde mit der Intention übersetzt, die „Rittersprache“ möglichst prominent einzubinden, was den Text stark verfremdet und komisch klingen lässt. Abbildung 6 zeigt eine natürlichere Übersetzung. Allzu viele Möglichkeiten die „Rittersprache“ einzubauen, finden sich nicht. Stattdessen

kann man hier mit einer typischeren „siezen-duzen“ Situation arbeiten, um den hierarchischen Unterschied zwischen den zwei Personen darzustellen. Das Setting wird durch die mangelnden Möglichkeiten austauschbar. Entfernen wir die Bilder aus der Übersetzung, ist nicht mehr ersichtlich, dass es sich um einen Text handelt, der im japanischen Mittelalter spielt. Anders bei dem japanischen Original. Unabhängig von den Bildern kann man feststellen, dass es sich um einen Text handelt, der sich im Japan des 17. Jhdt. abspielt. Auch bei japanischen Originalfassungen ist jedoch Vorsicht geboten, denn nicht immer ist die Rollensprache klar einteilbar. Ein gutes Beispiel hierfür ist Okabe Rintarō aus dem Anime Steins;Gate, der in Video 3 und Video 4 zu sehen ist. Okabe trägt einen weißen Mantel, weswegen man meinen würde, er entspräche dem Stereotypen des „Professors“. Bis man ihn sprechen hört. Video 3 und 4 zeigen jeweils einen Ausschnitt aus der japanischen und der englischen Fassung des Anime.

©White Fox 2011
この3次元⼥の⾊⾹に惑わされて…許さんぞ!
(kono sanjigen onna no iroka ni madowasarete…yurusan zo!)
Du hast dich also von den Reizen dieser 3-D Frau verleiten lassen…Das werde ich dir nicht durch die Finger gehen lassen!

⾝にまとう殺気がハンパないからなー
(mi ni matō sakki ga hanpa nai kara nā)
Das liegt an deiner blutdürstigen Aura…

Okabe, der sich selbst oft als „Mad Scientist“ bezeichnet, benutzt weder washi noch ja. Stattdessen benutzt er ore und die Partikel zo, die zur Emphase eines Satzes verwendet wird, ähnlich einem verbalen Rufzeichen. Kehren wir zu den Beispielen aus der ersten Abbildung zurück. Wir können sehen, dass die Person aus Beispiel c. ore und ze verwendet. Auf den ersten Blick würde man Okabe anhand seines Sprachstils in die Schublade „Männersprache“ werfen. Es fällt aber rasch auf, dass es doch nicht so einfach ist: Okabe verwendet, auch altbackene und komplizierte sino-japanische Worte wie iroka (Reiz, Charme) oder sakki (Blutdurst), die typisch für einen Professor wären. Gleichzeitig benutzt er auch Neologismen, Slang und Fremdwörter wie sanjigen (3-D, in real life), eijento (Agent) oder māsharu ātsu (Martial Arts). All das wirkt verwirrend, wenn man die Geschichte der Männersprache nicht kennt.

Das (sprachliche) Erbe der Samurai

Die Männersprache hat sich laut Kinsui aus der Sprache der Samurai der Meiji-Zeit (1868-1912) entwickelt. Die Samurai verloren durch die Meiji-Restauration zwar ihre militärische Wichtigkeit, behielten aber ihre Stellung in der Oberschicht der Gesellschaft. Sie behielten auch die Möglichkeit, sich zu bilden, durch die Wende konnten sie sich aber anderen Studien widmen. Die elitären, meist männlichen Studenten (shosei) der Zeit hatten eine Vorliebe für Anglizismen und unnötig komplexe sino-japanische Synonyme. Gleichzeitig verwendeten sie aber weichere, neutralere Personalpronomen wie boku und kimi. Damit entwickelten sie einen eigenen Soziolekt – die Studentensprache. Okabe bedient sich also mehrerer historischer Schichten der Männersprache. Einerseits verwendet er moderne Versatzstücke wie ore und zo. Andererseits benutzt er historische Elemente wie Anglizismen und Neologismen. Ein weiteres wichtiges Element bei Okabes Charakter ist das „Mad“ aus „Mad Scientist“. Auch wenn sich seine Theorien als richtig erweisen, handelt es sich bei seinem Charakter maßgeblich um einen exzentrischen Verschwörungstheoretiker. Wie könnte man Okabe mit diesem Vorwissen am besten übersetzen?

Die wahre Bedeutung der Worte

Meiner Meinung nach ist die englische Version des Anime ein exzellentes Beispiel für eine gelungene Übersetzung.

©White Fox 2011

Es werden die Begriffe vixen, sanctum sanctorum, Mata Hari oder calamity verwendet. Lateinische Begriffe haben im Westen einen ähnlichen Stellenwert wie sino-japanische Begriffe auf Japanisch: Sie klingen geschwollen und intellektuell. Aus gutem Grund: Latein war in Europa die Sprache der Gelehrten seit ihren Anfängen bis zur Aufklärung. Ähnlich verhält es sich mit dem Chinesischen in Japan. Der Begriff calamity ist ein dramatisches Synonym für ein Desaster. Mata Hari zu erwähnen, um einen Charakter als Spion zu bezeichnen, ist wieder eine auf das westliche Verständnis zugeschnittene Übersetzung der vorliegenden Situation. Diese gelungene Übersetzung lebt aber von der Tatsache, dass sie eine freie Übersetzung ist. Die Themen der einzelnen Aussagen bleiben zwar meistens gleich, ihre Form ändert sich aber zur Gänze und wird an das Publikum angepasst. Das hat seinen Preis. Dem Anime wird ein neues Gesicht verpasst und die wahre Bedeutung der einzelnen Worte geht verloren.

Zum Lernen gänzlich ungeeignet?

Für viele stellen Anime und Manga eine erste Brücke zur Auseinandersetzung mit Japan dar. Als Lernmedium sind sie aber nur mit Vorsicht zu verwenden. Die letzten Absätze haben nicht nur gezeigt, dass die Rollensprache nahezu ausschließlich virtuell in Form von Anime und Manga existiert. Sie haben auch gezeigt, dass sie vielfach komplex ist und reichlich Vorwissen für ein adäquates Verständnis erforderlich ist. Diese Notwendigkeit wird nochmals durch die Tatsache unterstrichen, dass die Rollensprache meistens nur schwierig zu übersetzen ist. Wenn man ein neues Wort lernt, ist es meist nicht mit einer schnellen Suche in einem Wörterbuch getan. Ein gutes Beispiel ist der Begriff shokun. Das Ergebnis des Deutsch-Japanischen online Wörterbuchs wadoku.de zu dem Begriff ist unter anderem: „Meine Damen und Herren!“. Sucht man nun nach „Meine Damen und Herren!“ erscheinen mehrere japanische Wörter darunter auch der Begriff mina-san, der vielen bekannt ist. Wo ist der Unterschied? Der Begriff shokun ist ein Kernbegriff der vorhin erwähnten Studentensprache und ist damit stark rollensprachlich konnotiert. Mina-san ist weitaus neutraler und wird heute im Alltag verwendet. Benutzt man shokun in einem Gespräch mit Muttersprachler*innen, wird es zwar verstanden, aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es zu reichlich Schmunzeln führen wird.

Pressetext (verfasst im November 2022):

Die ersten Kontakte mit der japanischen Sprache stellen heute für viele Lernende der Japanischen Sprache pop-kulturelle Produktionen wie Manga und Anime dar. Oft bemerken Personen, die es wagen Japanisch zu lernen, nach kurzer Zeit, dass sich die Sprache in den von ihnen konsumierten Medien stark vom Lehrbuchjapanisch unterscheidet.

Der Grund für die teilweise starken Unterschiede liegt im Konzept der ‚Rollensprache‘. Dabei gibt es einige prototypische Sprachstile, die beispielsweise als ‚typisch männlich‘ oder ‚typisch weiblich‘ wahrgenommen werden. Darauf aufbauend gibt es differenziertere Sprachstile, die zusätzlich zum Geschlecht auch Auskünfte über den sozialen Stand oder das Alter eines Charakters geben können. Gleichzeitig lassen sich auf Grund gewisser äußerlicher Merkmale auch Aussagen darüber treffen, wie ein Charakter am ehesten spricht. Das unausgesprochene Verständnis über die Rollensprache unter Muttersprachler*innen, die selbst Manga und Anime konsumieren, ist jedoch nicht aus der Luft gegriffen. Der Großteil der Konzepte, auf denen sie aufbaut, sind Abwandlungen von und Anlehnungen an historische Sprachstile.

Das soll aber nicht heißen, dass die Rollensprache ‚nur‘ eine Ansammlung historischer Sprachstile ist. Vielmehr ist sie eine künstliche und kunstschaffende Evolution dieser Sprachstile. Die meisten Muttersprachler*innen der japanischen Sprache haben kein Verständnis über das Konzept der Rollensprache, sondern wissen nur, dass niemand in der Realität so spricht. Daher kommt die Rollensprache in den meisten westlichen Unterrichtsumgebungen, wenn sie überhaupt erwähnt wird, viel zu kurz. Das Wissen über diese Sprachstile ist aber auch ein weiterer wichtiger Beitrag zum besseren Verständnis der japanischen Popkultur.

Der Beitrag gibt zunächst eine Zusammenfassung über die historische Entwicklung der Rollensprache. Daraufhin soll mit multimedialen Inhalten vor allem Lernenden der japanischen Sprache das Konzept der Rollensprache nähergebracht und auf einfache Art und Weise erklärt werden.

Vegane Ramen in Wien – die neue Vielfalt

Ramen ohne Fleisch, geht das überhaupt? Die Wiener Ramen-Szene sagt ja und tischt in ganz Wien vegan auf. Die Gastronom*innen arbeiten dabei im Spannungsfeld zwischen traditionellen und veganen Ernährungsweisen und integrieren die veränderten Ernährungsgewohnheiten der Menschen in das Restaurant-Konzept als Ganzes, oder betrachten die veganen Ramen-Varianten als getrennt vom restlichen Angebot. Besonders in Bezug zur Authentizität des Gerichtes vertreten sie durchaus emotionale Standpunkte. Was als authentisch japanisch betrachtet werden kann wird somit zur Verhandlungssache.
Gebackener Tofu, Shiitake-Pilze, frischer sowie marinierter Rettich, Sojasprossen und hauchfein geschnittene Zwiebeln als Topping des Yasai-Ramen im Oreno Ramen in der Lerchenfelder Straße in Wien. ©Oreno Ramen

Ramen ist eines der beliebtesten Gerichte der japanischen Küche und wird in unzähligen Varianten angeboten. Die Nudelsuppe besteht aus drei Komponenten, den Nudeln (men), der Suppenbrühe (shiru) und der Würzsoße (tare) und ist ein traditionell fleischhaltiges Gericht. Die Nudeln werden aus Weizenmehl, Salz und Wasser hergestellt. Letzteres wird in der Regel mit einer alkalischen Lösung (kansui) angereichert was den Nudeln ihre gelbliche Farbe und Textur gibt und ihnen zudem ihre spezielle Elastizität verleiht.

Das klingt schon einmal gut und ist ohnehin vegan. Die wahre Herausforderung stellt jedoch die Suppenbrühe dar. Sie wird traditionell aus einer Kombination von Fleisch, Meeresfrüchten und Gemüse gekocht und wird üblicherweise aus Hühner- oder Schweinefleisch gemacht, insbesondere den Füßen, Rücken, Rippen und Haxen. Des Weiteren werden Venusmuscheln, getrockneter Fisch (bonito) und getrockneter Seetang (konbu), Zwiebeln, Schalotten, Ingwer und auch Knoblauch verwendet. Der Fleischgeschmack geht hier eine Verbindung mit den Geschmäckern des Meeres ein und verlangt den Köchen in Wien einiges ab, wenn es darum geht, eine vegane Brühe zu kochen, die diese geschmackliche Vielfalt und Tiefe auch erreicht.

„Es ist nicht einfach, aus veganen Zutaten eine Brühe zu machen die auch wirklich kräftig und gut ist, […] vor allem auch, dass sie sämig ist. Eine Ramen-Brühe braucht Tiefe, es braucht mehrere Schichten im Geschmackserlebnis und muss auf der Zunge jeden Geschmacksbereich aktivieren“, sagt Alexander Zhan-Yang von Ramen Makotoya.

In dieser Hinsicht sind sich die Inhaber*innen der Wiener Ramen-Bars einig und man verwendet vor allem konbu und shiitake um eine vegane Brühe (dashi) zu kochen, aber auch Tomaten und geröstetes Gemüse, die zu einem intensiven Geschmacksprofil beitragen. Die Würzsoße, schließlich, gibt dem Ramen seine Grundtonalität und ist in der Regel in drei Geschmacksrichtungen – Salz (shio), fermentierte Sojabohnenpaste (miso) oder Sojasauce (shōyu) – erhältlich. Ramen vegan zuzubereiten, bedeutet vor allem erstmal viel auszuprobieren, bis man ein geschmacklich ausgewogenes Resultat erzielt.

Vegane Vielfalt bei den Ramen-Toppings

Hat man die drei Grundkomponenten erstmal im Griff, gibt es darüber hinaus noch unzählige Varianten für Toppings. Die Klassiker sind hierbei Schweinefleisch (chashu) und Ramen-Eier (ajitama), aber auch eine Vielzahl an veganen Schmankerln stehen zur Auswahl: getrocknete Algenblätter (nori), Frühlingszwiebel (aonegi), marinierte Bambussprossen (menma), Mais und chinesischer Blätterkohl (pak choi) sowie Rettichsprossen (kaiware), geriebener Rettich (daikon oroshi), Pasaniapilze (shiitake) oder eingelegte Ingwerstreifen (beni shōga). Der Star unter den veganen Toppings ist hierzulande auch kein Unbekannter mehr und hat nichts mit dem geschmacklosen weißen Block zu tun, den sich viele darunter vorstellen. Tofu wird in den Wiener Ramen-Bars herzhaft mariniert und scharf angebraten oder herrlich knusprig frittiert und ist eine wahre Gaumenfreude.

Ramen – ein globales Phänomen

Diese Vielfalt kommt nicht von ungefähr, denn die japanische Nudelsuppe Ramen hat mit ihrem chinesischen Ursprung, den Lāmiàn, was übersetzt so viel wie gezogene Nudel bedeutet und traditionell in Rindfleischsuppe serviert wird, nicht mehr allzu viel zu tun. Zwar fand das Gericht Ramen seinen Weg über chinesische Einwanderer, die als Köche in Restaurants der Hafenstadt Yokohama arbeiteten, nach Japan – dieser Umstand lässt sich bis in die 1880er Jahre zurückverfolgen – die Assimilierung des Gerichtes begann jedoch bereits in den 1910er Jahren und brachte japanische Ramen-Varianten hervor, die bis dahin nicht verwendete Zutaten nutzten. Ramen war in den 1960er Jahren vor allem bei der Arbeiterklasse beliebt, avancierte in den 1980er Jahren jedoch zum Trendfood der japanischen Jugend und verdankt seinen globalen Siegeszug vor allem der Erfindung des Instant Ramen durch Momofuke Andō und dessen Export ab den 1990er Jahren.

In Japan gibt es heutzutage mehr als 80.000 Ramen-Restaurants und nahezu jede Region hat eigene Variationen herausgebildet. In Anbetracht dieser besonderen Historie ist das Gericht in höchstem Maße durch kulturelle Aneignung und Mobilität geprägt. Die Anpassung ethnischer Landesküchen an den Geschmack lokaler Kunden ist ein langjähriges Phänomen, das rund um den Globus zu beobachten ist, und hat vielerorts lokale Ausprägungen hervorgebracht. Hier stellt sich also die Frage, welche Bedeutung vegane Alternativen in Bezug zur Authentizität des Gerichtes Ramen für die Ramen-Szene Wiens haben und wie Restaurantinhaber*innen im Spannungsfeld zwischen traditionellen Ernährungsweisen und aktuellen Entwicklungen in der veganen Ernährung agieren. So ist Ramen zwar ein traditionell fleischhaltiges Gericht, es findet jedoch zunehmend sein vegetarisches oder veganes Pendant.

Fleischkonsum und Veganismus in Österreich und Japan – ein Exkurs

Fleischkonsum in Österreich und Japan

Lebensmittel sind für etwa 26 % der globalen Treibhausgasemissionen verantwortlich und tierische Lebensmittel im Speziellen für bis zu zwei Drittel der Ernährungsbedingten Emissionen.

In Österreich ist der Fleischkonsum seit den 1950er Jahren um mehr als 160% gestiegen und beläuft sich mit Stand 2021 auf rund 91 kg Fleisch, was einem jährlichen Verzehr von ca. 61 kg (ohne Knochen und Sehnen) pro Person entspricht. Der heutige Fleischverzehr Japans beläuft sich mit Stand 2019 auf einen Pro-Kopf Konsum von 97 kg, wobei der Anteil an Fleisch mit 51,9 % und Fisch bzw. Meeresfrüchten mit 47 % am Gesamtkonsum zu Buche schlägt.

In der öffentlichen Wahrnehmung und im Bewusstsein der Bevölkerung sind vor allem der Energie- und Transportsektor als Problemfelder im Zuge des Klimawandels präsent, doch auch das globale Lebensmittelsystem trägt wesentlich zu den weltweiten Emissionen bei. Alternative Ernährungsweisen wie eine überwiegend pflanzenbasierte, vegetarische bzw. die vegane Ernährungsweise können einen entscheidenden Beitrag zur Bekämpfung des Klimawandels leisten. Die japanische Küche ist heutzutage ein Hybrid aus chinesischen, japanischen und europäischen Einflüssen und das Konzept des Vegetarismus oder Veganismus ist in Japan ähnlich wenig verbreitet wie in anderen Industrienationen – obwohl in Japan seit dem 13. Jahrhundert eine traditionell auf Gemüse basierende buddhistische Küche (shōjin ryōri) vorzufinden ist. Der Veganismus ist in der öffentlichen Wahrnehmung in Japan nicht so präsent wie in europäischen Ländern, trotzdem gibt es auch dort eine aktive Bewegung.

Laut einem Informationsblatt der japanischen Tourismusbehörde – „Vegetarian and Vegan Guide for Food and Beverage Businesses" – liegt der Anteil der Flexitarier in Japan im Jahr 2021 bei 15,8 %. Vegetarier werden mit 3,8 % und Veganer mit 2,2 % angeführt. In Österreich beläuft sich der Anteil an Flexitariern auf 30 %, jener der Vegetarier auf 9 % und der Bevölkerungsanteil der Veganer auf 2 %. Quelle: Statista 2021.

Die negativen Auswirkungen des Fleischkonsums veranlassen auch in Österreich immer mehr Menschen dazu, sich flexitarisch, vegetarisch oder vegan zu ernähren und den Fleischkonsum so weit wie möglich zu reduzieren. Als häufigster Grund für eine fleischreduzierte bzw. fleischlose Ernährungsweise wurde im Jahr 2021 der Tierschutz genannt, gefolgt von einem besseren körperlichen Wohlbefinden auf Rang zwei und gesundheitlichen Gründen an dritter Stelle. Diese Entwicklung verändert auch das gastronomische Angebot und macht auch vor der japanischen Küche nicht halt.

Authentizität und Veganismus aus Sicht der Gastronom*innen

Drei Kategorien nach der Berliner Japanologin Cornelia Reiher
Im Zuge ihrer Feldarbeit in Berlin identifizierte Reiher drei Gruppen die aufgrund ihrer unterschiedlichen Zugänge zur japanischen Küche den Kategorien personal, fusion oder as a profession zuzuordnen sind.

personal
Die erste Gruppe hat einen sehr persönlichen Zugang zur japanischen Küche und ist durch eine gesundheitsbewusste Grundeinstellung geprägt. Sie begegnen der japanischen Küche mit Respekt, sind jedoch aufgeschlossen gegenüber neuen Ansätzen und experimentieren mit eigenen Ideen. Ihre Speisen bezeichnen sie nicht notwendigerweise als japanisch und persönliche Geschmacksvorlieben bestimmen das Angebot.

fusion
Die zweite Gruppe erkennt die japanische Küche aus pragmatischen Gründen als Fusionsküche an. Sie passen Rezepte an, bezeichnen ihr Angebot jedoch als authentisch japanisch und legen viel Wert auf eine entsprechende Vermarktung. Trotz ihres Engagements sind sie weniger emotional involviert und betrachten ihre Tätigkeit eher als Einkommensquelle.

as a profession
Die dritte Gruppe schließlich besteht aus professionell ausgebildeten Unternehmern und Köchen, welche die japanische Küche sehr ernst nehmen und diese als ihren Beruf betrachten. Für sie geht es sowohl um die regelkonforme Zubereitung von Speisen als auch um den Respekt gegenüber der japanischen Küche und ihrer Arbeit. Demnach sind sie nur geringfügig bis gar nicht bereit Kompromisse einzugehen.

Die Ansprüche der Gastronom*innen an eine vegetarische bzw. vegane japanische Küche, und die Grenzen dessen, was als akzeptabel gilt, wenn es um Authentizität geht, stehen in direktem Zusammenhang mit der kulturellen und kulinarischen Identität der Gastronom*innen. Die Umsetzung veganer Ramen-Varianten im eigenen Restaurant dient dabei als Ausdruck der persönlichen Werte und Ideale. Diese Werthaltung wird von den Wiener Gastronom*innen jedoch nicht nur als ökonomischer Marker konstruiert, sondern hat auch eine emotionale Ebene. Sie beeinflusst auf unterschiedliche Weise die Vorstellungen, Standards und Prioritäten der Gastronom*innen in Bezug auf die japanische Küche. Nach einem Modell der Berliner Japanologin Cornelia Reiher lassen sich die Gastronom*innen anhand dieser Faktoren in drei Kategorien personal, fusion und as a profession einordnen.

Des Weiteren zeigt sich auch, dass sich lokal zwei unterschiedliche Strategien zur Handhabung der veganen Ernährungsweise herausgebildet haben und die Wiener Gastronom*innen in Bezug zum Klimaschutz, dem Veganismus und dem Aspekt der Authentizität durchaus unterschiedliche Positionen einnehmen. Insgesamt lässt sich eine lokale Marktanpassung in Wien feststellen die eine ungeahnte Vielfalt veganer Ramen-Varianten hervorgebracht hat und auf diese Weise die Wahrnehmung dessen verändert, was in Bezug zur japanischen Küche als authentisch betrachtet wird.

Kreative japanische Küche im MAKA Ramen

Maximilian Hauf und Katrin Wondra sind beide professionell ausgebildete Köch*innen und eröffneten im Januar 2022 ihre Ramen-Bar im 7. Bezirk in Wien. Das deutsche Paar sammelte bereits in unterschiedlichen Restaurants in Wien und International Berufserfahrung.

Die Inhaber*innen des Maka Ramen, Katrin Wondra und Maximilian Hauf. ©MAKA Ramen

Maximilian Hauf hat eine klassische französische Kochausbildung und fand seine Liebe zur japanischen Nudelsuppe über eine kulinarische Reise nach Japan, welche schließlich Inspirationsgeber und Anstoß dafür war, selbst eine Ramen Bar in Wien zu eröffnen. Im Gespräch berichtet er über seinen sehr persönlichen Zugang zu dem Gericht Ramen und bezeichnet sein Angebot nicht notwendigerweise als authentisch japanisch. Als Basis für das eigene Schaffen dienen ihm die Erinnerungen an das Geschmackserlebnis auf seiner Japanreise und so bestimmt der eigene Geschmack bzw. der seines Teams das Speiseangebot. Ramen nimmt er nicht gänzlich als japanisches Gericht wahr, sondern als Ergebnis einer hybriden asiatischen Küche. Allein die Varianten Shōyu, Shio und Tonkotsu begreift er als authentisch japanische Gerichte und hebt besonders deren Facettenreichtum, Ausgewogenheit und Balance im Geschmacksprofil als japanisch hervor.

Kreative Ramen-Variantem werden im MAKA Ramen sowohl vegetarisch als auch vegan aufgetischt. ©MAKA Ramen

Vegetarische bzw. vegane Varianten des Gerichtes fasst er nicht als authentisch japanisch auf und begreift diese als Experimentierfeld für neue Kreationen, die auch weniger traditionelle Zutaten beinhalten. Er spricht ihnen für die Zukunft der japanischen Küche auch eine größere Rolle zu und befürwortet diese Ernährungskonzepte, vor allem aus Gründen der Nachhaltigkeit.

„Grundsätzlich bin ich super dafür, dass wir viel mehr pflanzlich essen, viel mehr vegetarisch und vegan. Ich finde das ist auch die Zukunft, muss man leider so sehen. Da sind wir jetzt angekommen, das muss einfach geschehen. […] Und ich bin mittlerweile auch kein Feind mehr und habe ein anderes Bild als vor fünf sechs Jahren, aber mittlerweile gehört’s dazu. Jeder Koch muss das können, jeder Koch sollte auch dahin gehen. Weils halt auch einfach nachhaltiger ist. (Interview mit Maximilian Hauf, durchgeführt von der Autorin, 20. Juli 2022, Wien).

Diese Einstellung spiegelt sich auch in der Auswahl der Zutaten und der Zusammenstellung der Speisekarte wider. Die Qualität der Zutaten hat für ihn höchste Priorität und der nachhaltige Gedanke wird auch bei tierischen Produkten wie Suppenhühnern und Schweinefleisch hochgehalten, welche von regionalen Öko-Bauern bzw. in Bioqualität bezogen werden. Den Trend des Veganismus schätzt er in Europa größer als in Asien ein und so besteht die Speisekarte immer auch aus einer vegetarischen bzw. veganen Ramen-Variante und dem zu 90% ebenso konzipierten Special Ramen im wechselnden Angebot. Zudem sind drei von fünf Vorspeisen vegetarisch bzw. vegan. Laut eigenen Angaben werden 50 % der Ramen und bis zu 80 % der Vorspeisen in der vegetarischen oder veganen Variante verkauft.

Aufgrund der künstlerischen Gestaltung des Gastraumes besuchen viele Kunden aus der Kunstszene das Restaurant und das Gericht selbst ist nicht immer ausschlaggebend für den Besuch ©MAKA Ramen

Das Ambiente des MAKA Ramen lockt nicht nur viele japanische und asiatische Kunden an, die etwas Neues ausprobieren wollen, sondern auch ältere Herrschaften, die die Weinauswahl schätzen und Gäste, die in einer entspannten Atmosphäre essen wollen.


Authentisch Japanisch im Ramen Makotoya

Mit ihrer Ramen-Bar in Wien haben Alexander Zhan-Yang und seine Frau Jasmin den ersten Standort des japanischen Franchise Makotoya in Europa eröffnet. Nach einem Studium im Bereich Werbung, leitete Alexander Zhan-Yang eine eigene Agentur mit Schwerpunkt Gastronomie und entschloss sich schließlich, ein eigenes Restaurant zu eröffnen. Von dem Gericht Nudelsuppe war er schon immer angetan und das entscheidende Schlüsselerlebnis für die Eröffnung einer Ramen-Bar war der Genuss der beliebten Nudelsuppe in Japan. Er ist überzeugt von der Überlegenheit der japanischen Küche und bewundert die Hingabe japanischer Köche an die Zubereitung ihrer Speisen.

Alexander Zhan-Yang und seine Frau Jasmin vor ihrem Restaurant Ramen Makotoya in der Reichsratsstraße in Wien. ©Alexander Zhan-Yang

Der Zugang von Alexander Zhan-Yang zu dem Gericht Ramen ist sehr stark von seinen chinesischen Wurzeln, seiner kulturellen Identität als Asiate und seiner Vorliebe für die japanische Küche geprägt. Er respektiert den Perfektionismus der Japaner und legt viel Wert auf ein authentisch japanisches Geschmackserlebnis. Anpassungen an ein europäisches Geschmacksprofil lehnt er kategorisch ab, da Authentizität und Qualität für ihn von größter Bedeutung sind. Um diese gewährleisten zu können, entschied man sich für einen Franchise-Partner aus Japan. Die grundlegenden Rohstoffe werden aus der Region, die geschmacksdefinierenden Zutaten jedoch aus Japan bezogen. Ramen begreift er in seiner heutigen Form als japanisches Gericht, die vegane Variante jedoch sieht er als Anpassung an den europäischen Markt. In Zusammenarbeit mit den japanischen Köchen entwickelte man eine Rezeptur, die auch geschmacklich für diese vertretbar ist.

Herr Yoshida vom Franchisegeber aus Ōsaka zusammen mit dem Team vom Ramen Makotoya in Wien. ©Alexander Zhan-Yang

Insgesamt ist Alexander Zhan-Yang jedoch der Auffassung, dass der Veganismus für die japanische Küche keinerlei Bedeutung hat und in Japan aufgrund der ausgewogenen Ernährungsweise kein Bedarf an diesem Trend herrscht. Der Veganismus sei in der japanischen Gesellschaft nicht verankert und generell mit der japanischen Ernährungsweise nicht vereinbar. Er geht davon aus, dass sich die Esskultur Asiens zu stark von anderen Landesküchen unterscheide und Asiaten ihre Küche sehr eng mit ihrer Geschichte und Kultur verknüpfen und somit als Teil ihrer Identität begreifen.

„Essen ist ein Teil meiner Kultur und vor allem was ich esse, ist ein Teil meiner Kultur und ich kann das einfach nicht ablegen. […] Essen hat eine andere Bedeutung als hier im Westen. […] In der asiatischen Küche ist es […] ein Teil von uns den wir nicht aufgeben können. Ich bin kein Vegetarier oder Veganer, aber ich esse sehr oft vegetarisch und vegan. Es geht darum, dass ich nicht gänzlich diese Person sein kann.“ (Interview mit Alexander Zhan-Yang, durchgeführt von der Autorin, 17. Juni 2022, Wien).

Als Trend steht er dem Vegetarismus und Veganismus zwar kritisch gegenüber, ist der veganen Küche jedoch prinzipiell aufgeschlossen und befürwortet die Bewegung in Bezug auf den Tier- und Umweltschutz. Trotz allem geht er nicht davon aus, dass eine klimafreundliche Ernährungsweise in dem

Das Yasai Ramen im Ramen Makotoya wartet mit Kräuterseitlingen, Jungzwiebeln, Sojasprossen, Schmortomaten, Schwarzem Sesam und Mais auf. ©Alexander Zhan-Yang

derzeitigen Lebensmittelsystem möglich ist und da im Makotoya auch Fleischgerichte angeboten werden, spielen diese Beweggründe auch keine Rolle für die Auswahl der Zutaten oder die Zusammenstellung der Speisekarte.

Die Gäste kommen wegen der Authentizität der Gerichte und ein authentisches Erlebnis im Restaurant spiegle sich neben dem Geschmack der Speisen als wichtigstem Punkt auch in der Einrichtung und der japanischen Arbeitsmentalität wider und wird auch als solche kommuniziert. Der Gastronom ist der Auffassung, dass man über Authentizität nur sprechen kann, wenn man auch das entsprechende kulturelle Verständnis einbringt. Das Makotoya lockt viele japanische Kunden und Ramen-Liebhaber an, deren Feedback auch als wichtigster Marker für die Authentizität und Qualität des Angebotes wahrgenommen wird. Laut Alexander Zhan-Yang sind die veganen Ramen sehr beliebt und rangieren in der Regel auf Platz zwei bis drei der meistbestellten Speisen, japanische Gäste hätten diese jedoch noch nie bestellt.

Das Oreno Ramen – Wo Ramen zu Soulfood wird

Justin (Chen) Zimmer und seine japanische Frau Nomoto eröffneten ihre Ramen-Bar in der Lerchenfelder Straße in Wien und erschufen einen Ort, an dem neben einem ausgezeichneten kulinarischen Angebot, auch das Interieur und die musikalische Untermalung gute Laune versprühen. Justin Zimmer hat chinesische Wurzeln, ist durch die Tätigkeit der Eltern mit der Gastronomie aufgewachsen und hat bereits in mehreren Restaurants wie bspw. dem Karma Ramen oder der Mochi Ramen-Bar seine Küchenerfahrung gesammelt. Er ist mit chinesischer Nudelsuppe aufgewachsen und reist mit seiner Frau oft nach Japan, wo er schon in den Genuss unzähliger Ramen kam.

Festliche Grüße richtete Justin Zimmer gemeinsam mit Hündin Klara aus, die als Teil der Familie ein fester Bestandteil des Oreno Ramen ist. ©Oreno Ramen

Er ist überzeugt von dem Gericht und begeistert von der geschmacklichen Komplexität der japanischen Ramen. Als Asiate war ihm das Angebot in Wien zu stark europäisiert, und so war es ihm ein Bedürfnis, den asiatischen Geschmack zu vermitteln und authentische Ramen nach Wien zu bringen. Justin Zimmer ist der Auffassung, dass Asiaten einen besseren Zugang zum Gericht haben und Europäern der intuitive Umgang mit den Zutaten fehle. Inzwischen ist sein Zugang zum Gericht Ramen jedoch stärker durch die veränderten Ernährungsbedürfnisse seiner Kunden geprägt und geht mehr in Richtung Fusionsküche.

Seit Anfang des Jahres gibt es im Oreno Ramen auch ein veganes Tonkotsu Ramen mit Pilzen, Spinat, Frühlingszwiebel, Nori, Sesam, knusprig frittiertem Lotus und Schnittlauch-Öl.

Für ihn sind Ramen vollends japanisch, was er vor allem mit dem hohen Grad der Weiterentwicklung des Gerichtes in Japan begründet. Er begegnet der japanischen Küche mit Respekt und betrachtet authentisch japanische Ramen als Basis für seine Fusionsküche, begreift Ramen jedoch auch als vielfältiges Regionalgericht mit Freiraum für neue Varianten.

„Es ist genau wie es die Japaner machen, sie haben die chinesische Nudelsuppe genommen und weiterentwickelt, ohne diese wichtige Basis zu verlieren. […] Und das respektiere ich extrem an den Japanern, weil sie die Wurzeln respektieren, dort wo sie herkommen. […] ich nehme jetzt das Ramen der Japaner […] das ist für mich jetzt die Basis, die Wurzel, mit diesem Respekt muss ich sie weiterentwickeln. Das heißt es darf auch vegetarisch sein, es darf auch vegan sein, es ist ein offener Weg […] es ist noch viel Freiraum wo man sich noch weiterentwickeln kann.“ (Interview mit Justin Zimmer, durchgeführt von der Autorin, 03. August 2022, Wien).

Das vegane Angebot versteht er als Anpassung an den europäischen Markt und als Chance sich von Mitbewerbern abzuheben. Justin Zimmer geht davon aus, dass man mit rein europäischen Zutaten nicht authentisch japanisch kochen kann. Bei der Entwicklung neuer Rezepte für vegane Varianten möchte er dementsprechend so authentisch wie möglich bleiben und setzt auch hierbei auf die geschmacksbestimmenden japanischen Zutaten. Trotz allem geht er davon aus, dass das, was als authentisch wahrgenommen wird, sich von Person zu Person unterscheidet. Seiner Meinung nach ist auch das persönliche Wissen um das Gericht und die kulinarische Erfahrung in Japan ausschlaggebend für die Beurteilung von Authentizität in Bezug zu Ramen.

Den Veganismus sieht er als europäisches Phänomen, ist jedoch der Meinung, dass die vegetarische bzw. vegane Ernährungsweise die Zukunft ist. Als Vater hat er diesbezüglich einen sehr emotionalen Zugang und denkt dabei vor allem an die kommenden Generationen. Zudem ist er durch seine Kundschaft mit unterschiedlichen Ernährungsweisen in Kontakt gekommen und hat auf Empfehlung ebendieser auch schon Details bei Gerichten angepasst bzw. abgeänderte Varianten bestehender Gerichte in die Speisekarte aufgenommen. Feedback wird grundsätzlich offen aufgenommen, Anpassungen jedoch nur umgesetzt, wenn diese zum Konzept des Lokals passen. Mit seinem Angebot reagiert Justin Zimmer auch auf die wachsende Anzahl an Flexitariern innerhalb seiner Kundschaft und befürwortet diese Entwicklung als positiv für Mensch und Umwelt.

Das Oreno Ramen steht im Ruf, das beste vegane Ramen der Stadt anzubieten und laut Justin Zimmer, ist das vegane Ramen das meistverkaufte Gericht auf der Speisekarte. Neben europäischen Gästen, kommen auch viele moderne Japaner die offen für Neues sind. In seiner Ramen-Bar legt Justin Zimmer viel Wert auf ein positives Miteinander, gute Musik, ein gutes Arbeitsklima und ein harmonisches Team und so besuchen Kunden sein Restaurant nicht nur wegen des Essens, sondern auch wegen der guten Atmosphäre.

Authentizität in unterschiedlichen Ausprägungen

In der Wiener Ramen-Szene hängt die Authentizität der Speisen sehr stark vom kulturellen und persönlichen Hintergrund der Gastronom*innen ab. Während für Maximilian Hauf als Europäer der Faktor Authentizität nur eine untergeordnete Rolle spielt, ist dieser für Alexander Zhan-Yang und Justin Zimmer als Asiaten von großer Bedeutung. Das Geschmacksprofil der Speisen basiert bei Maximilian Hauf auf den individuellen Erfahrungen und Erinnerungen, Alexander Zhan-Yang legitimiert sein Angebot über den japanischen Franchisegeber und Justin Zimmer über seine regelmäßigen kulinarischen Reisen nach Japan. Betrachtet man die Handhabung der veganen Ernährungsweise der Gastronom*innen, so lassen sich zwei unterschiedliche Strategien identifizieren. Zum einen ein integrativer Ansatz der die veränderten Ernährungsgewohnheiten der Menschen in das Restaurant-Konzept als Ganzes aufnimmt und zum anderen ein Ansatz, welcher ebendiese als von dem restlichen Angebot getrennt betrachtet.

Während man im MAKA Ramen und im Oreno Ramen vegane Gerichte aus Überzeugung in das Angebot integriert hat, wird im Makotoya ein solches zwar angeboten, um auch Personen, die diese Werte vertreten willkommen heißen zu können, das vegane Angebot wird jedoch getrennt von dem Gesamtkonzept des Restaurants betrachtet.

Gegenüberstellung der drei Ramen-Bars im Umgang mit der veganen Ernährungsweise und dessen konzeptionelle Einbindung im eigenen Restaurant.

Gastronomische Talente in allen Kategorien

Der konzeptionelle Rahmen für die Kategorisierung von Authentizität bezieht sich bei der Berliner Japanologin Cornelia Reiher überwiegend auf die Beziehung japanischer Gastronom*innen im Umgang mit der japanischen Küche in Europa. Ihr Modell eignet sich grundlegend aber auch für die Befragung von Personen nicht japanischer Nationalität. In Wien hat sich jedoch gezeigt, dass sich eine stärkere Gewichtung der kulturellen Identität der Befragten empfiehlt, da ebendiese die Auffassung der Gastronom*innen, was denn nun Authentizität zu bedeuten hat, vermehrt zu beeinflussen scheint und Authentizität somit zur Verhandlungssache wird. Zudem zeigt sich, dass Gastronom*innen in unterschiedlicher Gewichtung auch mehreren Kategorien zuordenbar sind.

Angesichts der Erhebung zum MAKA Ramen lässt sich Maximilian Hauf eindeutig der Kategorie personal zuordnen, mit Tendenz in Richtung fusion, was vor allem auf die große Bereitschaft, als Koch im veganen bzw. vegetarischen Bereich zu experimentieren, zurückzuführen ist. Alexander Zhan-Yang lässt sich der Kategorie as a profession zuordnen, auch wenn er selbst vorwiegend im Management tätig ist. Er nimmt die japanische Küche sehr ernst und hat hohe Ansprüche an die Qualität und Authentizität seines Angebotes. Marktanpassungen und der USP der Authentizität rücken ihn laut Reiher jedoch auch in die Nähe der Kategorie fusion. Bezüglich des Oreno Ramen lässt sich Justin Zimmer den Kategorien personal und fusion zuordnen. Er legt viel Wert auf ein authentisches Geschmackserlebnis, geht nun aber stärker auf die veränderten Ernährungsbedürfnisse seiner Kunden ein. Das Bedürfnis sich weiterzuentwickeln und trotzdem authentische vegane Ramen anzubieten ist bei Justin Zimmer am stärksten ausgeprägt.

Persönliches Engagement als Motor für Veränderung

Es lässt sich durchaus sagen, dass vegane Alternativen für die Wiener Ramen-Szene nicht nur wirtschaftlich von Bedeutung sind, sondern auch für ein verändertes Verständnis von authentisch japanischen Speisen eine Rolle spielen. Auch der Aspekt des Umweltschutzes und der Beitrag des Veganismus zu einer klimafreundlichen Ernährung wird von den Gastronom*innen großteils anerkannt und das Bewusstsein, dass das eigene Dafürhalten einen Einfluss auf die positive Wahrnehmung dieses Konzeptes nimmt, ist trotz der teils kritischen Haltung gegenüber dem Veganismus als Lifestyle-Trend durchaus vorhanden. Die Beurteilung von Authentizität im Zusammenhang mit der veganen Ernährungsweise ist somit stark über den persönlichen Zugang der Gastronom*innen geprägt. Tendenziell lässt sich sagen, dass die kulturelle Verortung der Gastronom*innen in Österreich bzw. im hiesigen Markt und das persönliche Engagement im Bezug zum Veganismus die stärksten Faktoren sind, wenn es um die Bereitschaft geht, im eigenen Restaurant vegane Alternativen anzubieten. Ein vielfältiges Angebot ist in Wien aber auf jeden Fall garantiert und wer sich gerne selbst von den Kreationen der hiesigen Ramen-Szene überzeugen möchte, wird sichtlich mehr als nur eine Gelegenheit dafür finden – es ist für jeden etwas dabei.

Pressetext (verfasst im November 2022):

Ramen ist eines der beliebtesten Gerichte der japanischen Küche und wird in unzähligen Varianten angeboten. Die Nudelsuppe besteht aus drei Komponenten, den Nudeln (men), der Suppenbrühe (shiru) und der Würzsoße (tare). Sie fand ihren Weg über chinesische Einwanderer nach Japan, die als Köche in Restaurants der Hafenstadt Yokohama arbeiteten und die wachsende internationale Klientel bedienten. Dieser Umstand lässt sich bis in die 1880er Jahre zurückverfolgen, wobei die Assimilierung des Gerichtes in den 1910er Jahren begann und japanische Ramen-Varianten hervorbrachte, die bis dahin nicht verwendete Zutaten nutzten. In Anbetracht dieser besonderen Historie ist das Gericht in höchstem Maße durch Appropriation und Mobilität geprägt. Die Anpassung ethnischer Landesküchen an den Geschmack lokaler Kunden ist ein langjähriges Phänomen, das rund um den Globus zu beobachten ist und das Konzept der Authentizität spielt hierbei eine wichtige Rolle. Ramen ist ein traditionell fleischhaltiges Gericht, das jedoch zunehmend ihr vegetarisches oder veganes Pendant findet. In Österreich veranlassen die negativen Auswirkungen des Fleischkonsums immer mehr Menschen dazu sich flexitarisch, vegetarisch oder vegan zu ernähren und den Fleischkonsum so weit wie möglich zu reduzieren. Diese Entwicklung verändert das gastronomische Angebot und macht auch vor der japanischen Küche nicht halt.

Vegane Ramen-Varianten dienen dabei nicht nur als Träger von persönlichen Werten und Idealen, sondern auch als Ausdruck der kulturellen Identität seiner Produzent*innen. Dabei wird kulinarische Authentizität von den Gastronom*innen nicht nur als ökonomischer Marker konstruiert, sondern hat auch eine emotionale Ebene, die sowohl subjektive als auch objektivierte Elemente beinhalten kann und auf unterschiedliche Weise die Vorstellungen, Standards und Prioritäten der Gastronom*innen in Bezug auf die japanische Küche beeinflusst. Nach einem Modell der Berliner Japanologin Cornelia Reiher lassen sich die Gastronom*innen anhand dieser Faktoren in die drei Kategorien personal, fusion und as a profession zuordnen. In der Wiener Ramen-Szene lassen sich so zwei unterschiedliche Strategien zur Handhabung der veganen Ernährungsweise identifizieren. Zum einen ein integrativer Ansatz, der die veränderten Ernährungsgewohnheiten der Menschen in das Restaurant-Konzept als Ganzes aufnimmt und zum anderen ein Ansatz, welcher ebendiese als von dem restlichen Angebot getrennt betrachtet.

Da in allen untersuchten Ramen-Bars vegane Alternativen angeboten werden, kann man diese Entwicklung als lokale Anpassung der japanischen Küche in der Ramen-Szene Wiens betrachten. Diese Marktanpassung hat in Wien eine ungeahnte Vielfalt veganer Ramen-Varianten hervorgebracht, die je nach Kategorie über den persönlichen Geschmack des Koches und seines Teams oder über original japanische Rezepturen legitimiert werden. Auf diese Weise wandelt sich die Wahrnehmung dessen, was in Bezug zu veganen Alternativen als authentisch japanisch betrachtet wird. Trotz der wachsenden Bedeutung der veganen Bewegung in Japan, scheint die vegane Ernährungsweise von den Befragten jedoch als westlicher Trend wahrgenommen zu werden. Der offene Umgang der Gastronom*innen mit dem Konzept des Veganismus lässt jedoch darauf schließen, dass die vegane Ernährungsweise die Wiener-Szene nachhaltig beeinflusst, auch wenn unter den Gastronom*innen kein Konsens über dessen Beitrag zum Umweltschutz bzw. einer klimafreundlichen Ernährung besteht.

Ukraine-Krieg prolongiert Konflikt um die Kurilen-Inseln – Kein Friedensvertrag zwischen Japan und Russland

Japans Beteiligung an den Sanktionen gegen Russland blockiert die seit 1945 ausständigen Friedensverhandlungen. Ein Friedensvertrag zwischen beiden Ländern ist insbesondere für die Lösung des Territorialstreites um die Kurilen-Inseln bedeutend. Die Sanktionen Japans gegen Russland haben zur Folge, dass das russische Außenministerium verkündete, dass die Friedensverhandlungen nicht mehr weitergeführt werden. Der Krieg in der Ukraine und die Ankündigung des russischen Außenministeriums sorgten dafür, dass der Territorialstreit um die Kurilen-Inseln in der Tageszeitung Asahi Shinbun verstärkt diskutiert wurde. Die Berichterstattung der Asahi Shinbun über den Territorialstreit seit dem Beginn des Krieges in der Ukraine (genauer gesagt im Zeitraum vom 23.02.2022 – 17.06.2022) war Gegenstand meiner Forschung.


©MOFA: In der Karte ist das Territorium, das Japan als sein Hoheitsgebiet betrachtet, rosa markiert. Auch die vier Inseln, die von Japan beansprucht werden, sind rosa markiert. Zur Großansicht klicken.




©Shirokazan via Wikimedia Commons: Eine Tafel in der Stadt Hakodate, die besagt, dass die vier Inseln Habomai, Shikotan, Kunashiri und Etorofu japanisches Territorium seien und zurückgegeben werden sollten.

Wo befinden sich die Kurilen-Inseln?

Die Kurilen-Inseln befinden sich zwischen der nördlichen Grenze von Hokkaido und der südlichen Grenze der Halbinsel Kamtschatka, welche zu Russland gehört. Japan und Russland befinden sich in einem aktiven Territorialstreit um vier der Inseln, nämlich Habomai, Shikotan, Kunashiri und Etorofu. Japan beansprucht diese vier Inseln und besteht darauf, dass sie japanisches Hoheitsgebiet sind und demnach Japan gehören sollten.

Historische Entwicklung des über
70-Jahre alten Territorialstreites

Wem gehörten diese Inseln aber zuerst? Die erste Grenzziehung und Kontaktaufnahme zwischen Japan und Russland erfolgte im Jahr 1855 mit dem Vertrag von Shimoda. Nach der Landesöffnung im Jahr 1853 wollte auch Russland diplomatische Beziehungen mit Japan aufnehmen. Aus diesem Grund wurde Admiral Jewfimi Wassiljewitsch Putjatin im Auftrag des russischen Außenministers nach Japan entsandt. Im Jahr 1855 wurde dann der Shimoda-Vertrag unterzeichnet, in dem die Grenzen bestimmt wurden. Die erste Grenze, die beide Länder trennte, befand sich zwischen den Inseln Etorofu und Urup. Japan besaß daher vier Inseln der gesamten Inselkette, nämlich Habomai, Shikotan, Kunashiri und Etorofu. Diese Tatsache wird von der japanischen Regierung auch als Argument und Begründung dafür verwendet, dass die vier Inseln Habomai, Shikotan, Kunashiri und Etorofu japanisches Hoheitsgebiet sind und somit Japan gehören.

©Anonymer Maler aus Japan (1853): Putjatins Ankunft in Nagasaki, später im Jahr 1855 wurde der Shimoda-Vertrag mit ihm als Repräsentanten für Russland unterzeichnet.

Der russisch-japanische Krieg

Im Zuge eines Territorien-Tausches im Jahr 1875 einigten sich Japan und Russland darauf, dass Japan die gesamte Kurilen-Inselkette besitzen und die Insel Sachalin zu Russland gehören sollte. Die Situation änderte sich aber in den Jahren 1904/05 mit dem russisch-japanischen Krieg. Japan besetzte mit seinen Truppen den südlichen Teil der Insel Sachalin und nach seiner Niederlage übergab Russland auch den nördlichen Teil an Japan. Kurz vor dem zweiten Weltkrieg unterschrieben Japan und die Sowjetunion einen Neutralitätspakt (1941), der für fünf Jahre gelten sollte. In diesem wurde versprochen, dass beide Länder eine freundliche Beziehung führen und die Territorien des jeweils anderen respektieren würden. Im Februar 1945 trafen sich Stalin (UdSSR), Churchill (UK) und Roosevelt (USA) zur Konferenz von Jalta. Auf dieser wurde der Entschluss gefasst, dass die Sowjet Union für die Alliierten gegen Japan in den Krieg eintreten solle. Daraufhin verkündete die Sowjetunion im April 1945, dass sie den Neutralitätspakt nicht verlängern würde, und erklärte Japan am 8. August 1945 den Krieg. Russland besetzte die Insel Sachalin und die Kurilen-Inselkette und gliederte diese Gebiete im Jahr 1946 in das eigene Territorium ein.

„Illegale Besetzung“

Die Sowjetunion ignorierte damit den Neutralitätspakt und auch die Atlantik Charta (1941), die sie zwar nicht unterschrieben, aber anerkannt haben. Diese untersagte unter anderem das Erobern von neuem Territorium. Aus diesem Grund bezeichnet das japanische Außenministerium die Eingliederung der Inseln in das russische Territorium als eine „illegale Besetzung“. Das Gegenargument dazu liegt im Friedensvertrag von San Francisco aus dem Jahr 1951 begründet. Den Friedensvertrag hat auch Japan unterschrieben und darin auf die Kurilen-Inseln verzichtet. Die japanische Regierung behauptet, dass sie den Vertrag nur mit dem Gedanken unterschrieben habe, dass die vier Inseln Habomai, Shikotan, Kunashiri und Etorofu nicht dazu gehörten. Bis heute beansprucht Japan diese vier Inseln.

Premierminister Yoshida unterzeichnet den San Francisco-Vertrag. ©ameblo.jp veröffentlicht am 8. September 1951

Der Ukraine Krieg – das neue Hindernis bei den Friedensverhandlungen


©Captain76 via Wikimedia Commons: Brücke am Kap von Nosappu mit der „Gebetsflamme“, welche die Hoffnung symbolisieren soll, dass Japan alle vier Inseln zurückbekommen wird.

Die Tatsache, dass beide Länder seit 77 Jahren keinen Friedensvertrag unterzeichnet haben, zeigt wie schwierig es ist, sich auf eine Lösung zu einigen, welche beide Parteien zufrieden stellen würde. Dies wird nun zusätzlich durch den Krieg in der Ukraine erschwert. Ich habe erforscht, wie die japanische Tageszeitung Asahi Shinbun über den Territorialstreit um die Kurilen im Zuge des Krieges in der Ukraine berichtete. In der Zeitspanne vom 23. Februar 2022 bis zum 17. Juni 2022 wurden 44 Artikel gesammelt und analysiert. Tatsächlich ist die Berichterstattung über den Territorialstreit seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine intensiver geworden. Obwohl Japan in einen aktiven Territorialstreit verwickelt ist und die Friedensverhandlungen zu dem Zeitpunkt noch im Gange waren, spürte Tōkyō den Druck des Westens und verhängte ebenfalls Sanktionen gegen Russland. Dies sorgte für Diskussionen unter Politiker*innen (hauptsächlich Politiker*innen der Liberaldemokratischen Partei Japans) und dem Volk (insbesondere Mitglieder der Föderation für die Kurilen-Inseln, wie z.B. Miyagawa Hideaki, der Exekutivdirektor der Föderation), welche der Regierung rieten den Territorialstreit nicht zu vergessen.

Premierminister Kishida Fumio machte deutlich, dass die Regierung in dieser Problematik auf die Zusammenarbeit mit den USA und der EU setzen würde. Die russische Regierung reagierte auf die Sanktionen Japans aber folgendermaßen:

Angesichts der ausgesprochen unfreundlichen Natur der einseitigen Sanktionen Japans gegen Russland im Zuge der Situation in der Ukraine werden folgende Maßnahmen unternommen. Zurzeit hat die russische Regierung keinerlei Absicht, die Friedensverhandlungen mit Japan weiterzuführen, da es unmöglich ist, mit einem Land, das eine ausgesprochen unfreundliche Haltung einnimmt und versucht, den Interessen unseres Landes zu schaden, über die Unterzeichnung eines fundamentalen Vertrages über die bilateralen Beziehungen zu diskutieren. (TASS 21.03.2022; nach eigener Übersetzung)

Als Reaktion auf diese Ankündigung von 21. März 2022 berichtete die Asahi Shinbun verstärkt über diese Situation und die Reaktion der japanischen Regierung. Premierminister Kishida stellte die Behauptung auf, dass die Sanktionen ausschließlich mit den Aktionen Russlands in der Ukraine in Verbindung stehen würden und nichts mit den Angelegenheiten der russisch-japanischen Beziehungen (insbesondere den Verhandlungen für einen Friedensvertrag) zu tun hätten. In einem Artikel der Asahi Shinbun wurden die Worte des Premierministers Kishida folgendermaßen zitiert:

„Die Reaktion Russlands mit dem Versuch, die Thematik auf die japanisch-russischen Beziehungen abzuwälzen ist äußerst ungerechtfertigt und inakzeptabel. Wir als Japan werden strengstens dagegen protestieren“, erläutert er. (Asahi Shinbun 23.03.2022; nach eigener Übersetzung)

Premierminister Kishida steht durch diese Entwicklungen in den Friedensverhandlungen nun unter Druck. Etliche Politiker*innen, wie zum Beispiel Suzuki Muneo, ein Mitglied des Repräsentantenhauses und die Tageszeitung Asahi Shinbun selbst verlangen von ihm, dass er Führungsstärke zeigen und in dieser Angelegenheit nicht nachgeben solle. Auch aus dem japanischen Volk stach eine Stimme besonders hervor. Nämlich die Stimme der ehemaligen Inselbewohner*innen, die einst auf den Inseln lebten, bis sie von den russischen Truppen vertrieben wurden.

Die Situation um die ehemaligen Inselbewohner*innen

Die ehemaligen Inselbewohner waren nicht Teil meiner eigentlichen Forschungsziele. Persönlich erfuhr ich von ihnen erst im Zuge meiner Forschung. Sie sind besonders von den Sanktionen und deren Folgen betroffen, denn für sie hat Russland nämlich die Visafreiheit, aufgrund derer sie die Inseln besuchen konnten, aufgehoben. Für die ehemaligen Inselbewohner*innen ist dies besonders schlimm, denn ihre Bemühungen, aus welchen auch die Visafreiheit im Jahr 1992 entstanden ist, wurden somit zunichte gemacht. So besteht unter ihnen die Befürchtung, dass sie womöglich nie wieder die Inseln und die Gräber ihrer Ahnen besuchen können, denn die meisten der ehemaligen Inselbewohner*innen sind in hohem Alter. Auch dadurch entsteht Druck auf die Regierung. Die Inselbewohner*innen appellieren an die japanische Regierung, die Fischer*innen, die in den Gewässern um die Kurilen fischen durften, und die ehemaligen Inselbewohner*innen nicht zu vergessen.

In der Stadt Nemuro im äußersten Nordosten von Hokkaido befindet sich eine Organisation für die ehemaligen Inselbewohner*innen, die Föderation der Einwohner der Kurilen-Inseln. Diese Organisation ist auf YouTube aktiv und ich habe ihren YouTube-Channel während meiner Recherche per Zufall entdeckt. Am 7. Februar 2022 wurde ein Video online gestellt, dass das Leben der ehemaligen Inselbewohner*innen am Beispiel von Furubayashi Sadao zeigen soll. Die Geschichte wird von seinem Standpunkt aus erzählt und mit einem Manga visualisiert. Ich habe aus diesem Video einen Ausschnitt gewählt, um zu zeigen, welche Gefühle die ehemaligen Inselbewohner*innen haben und welche Zukunft sie sich vorstellen.

Übersetzt von: Rabia Deveci – Lektorat: Mariana Rathbauer

Herr Furubayashi hat die Stadt Nemuro als seinen Wohnort gewählt, weil man die Insel Kunashiri am Horizont sehen kann. Dies zeugt von dem Wunsch der Heimat nahe zu sein, so nahe wie es nur geht. Für Furubayashi dürfen die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholt werden (z.B.: das Vertreiben der Inselbewohner*innen) und deswegen ist er dafür, dass mehr Menschen über den Territorialstreit Bescheid wissen. Denn je mehr Menschen davon wissen, desto eher können sie gemeinsam nach einer Lösung suchen. Herr Furubayashi erwünscht sich eine Zukunft, in welcher sie gemeinsam mit den russischen Bewohnern auf den Inseln leben können. (Das gesamte Video kann unter diesem Link angesehen werden: YouTube.com. )

Die ehemaligen Inselbewohner*innen werden insbesondere nach der Aufhebung der Visafreiheit weiterhin Druck auf die japanische Regierung ausüben. Ob sich die russisch-japanischen Beziehungen aber erholen können, sodass die Friedensverhandlungen weitergeführt werden, hängt stark von den Entwicklungen des Krieges in der Ukraine und den damit zusammenhängenden internationalen Beziehungen zu Russland ab.

Pressetext (verfasst im November 2022):

Die Kurilen sind eine Inselkette, die sich zwischen der nördlichen Grenze Japans und der südöstlichen Grenze Russlands befindet. Die erste offizielle Grenze, auf die sich beide Länder geeinigt hatten, wurde durch den Vertrag von Shimoda, im Jahr 1855 festgelegt. Diese Grenze lag zwischen den Inseln Etorofu und Urup. Durch diese Grenzziehung fielen die vier südlichen Kurilen-Inseln Habomai, Shikotan, Kunashiri und Etorofu in den Bereich des japanischen Territoriums. Da diese Grenzlinie die erste offiziell dokumentierte Grenze zwischen den beiden Ländern ist, werden die vier Inseln von der japanischen Regierung als japanisches Hoheitsgebiet erachtet. Zurzeit befinden sich die vier Inseln und die gesamte Inselkette allerdings in russischem Besitz. Die japanische Regierung bezeichnet diese Besetzung als illegal, weil Russland im Jahr 1945 begann die Inseln zu erobern − trotz des Neutralitätspaktes zwischen den beiden Ländern und dem Verbot der Eroberungen von Grund und Boden der auch von Russland anerkannten Atlantik Charta aus dem Jahr 1941. Darauffolgend wurden die Kurilen-Inseln im Jahr 1946 in das russische Territorium aufgenommen. Der Territorialstreit, in welchem Japan sein Hoheitsgebiet beansprucht, entwickelte sich als Folge dieser Ereignisse und ist ein wichtiger Grund dafür, dass beide Länder noch keinen Friedensvertrag unterzeichnet haben.

Mein Forschungsziel war es zu ermitteln, auf welche Art und Weise in der Asahi Shinbun über den Territorialstreit um die Kurilen-Inseln berichtet wurde, welche Akteur*innen aufgetreten sind, und welche Themen und Argumente angeführt wurden. Wichtig war auch herauszufinden, ob der Krieg in der Ukraine dabei eine Rolle spielte. Aus den Forschungsergebnissen konnte ich herausfinden, dass der Krieg in der Ukraine tatsächlich eine Rolle spielte. Mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine beschloss Japan nämlich mit den USA und der EU zusammenzuarbeiten und gegen Russland Sanktionen zu verhängen. Diese Zusammenarbeit ist ein wichtiges Ziel des gegenwärtigen Premierministers Kishida Fumio. Als Antwort auf diese Sanktionen gab das russische Außenministerium am 21. März 2022 bekannt, dass man die Friedensverhandlungen mit Japan nun nicht mehr weiterführt. Das löste eine Welle von Enttäuschung in der japanischen Regierung, aber auch unter der Bevölkerung aus. Bei letzterem sticht die Stimme einer Gruppe besonders hervor, nämlich die der ehemaligen Inselbewohner*innen, die einst auf den Kurilen lebten und aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Ihr Leid ist besonders groß, denn neben dem Aussetzen der Friedensverhandlungen hat die russische Regierung auch die Visafreiheit, die sich die Betroffenen nach langen Bestrebungen erkämpft hatten, aufgehoben. Die Visafreiheit ermöglichte es ihnen, die Inseln zu besuchen. Insbesondere der Besuch der Gräber ihrer Ahnen ist für sie von großer Bedeutung, weshalb sie einen Appell an die japanische Regierung gerichtet haben, sich diesem Thema anzunehmen. Leider sind die meisten der ehemaligen Inselbewohner*innen in hohem Alter, weshalb viele darüber besorgt sind, die Inseln vor ihrem Tod nicht mehr besuchen zu können. Aus diesem Grund ist der Druck auf die japanische Regierung derzeit besonders groß.

Kitsune-tsuki: Zwischen Volksglauben und psychischer Krankheit


„A Glimpse of Hope [Lofi ver.]“, Originalmusik ©Robert Larcher

Geister, Dämonen und spirituelle Wesen – im japanischen Volksglauben spielen diese Erscheinungen, welche als yōkai bekannt sind, eine wesentliche Rolle. In meiner Seminararbeit beschäftigte ich mich literaturhistorisch mit kitsune-tsuki oder auch „Fuchsbesessenheit“, welches eines von vielen Phänomenen des Volksglaubens darstellt und sich in literarischen Werken bis in das 8. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Doch wurde dieses Phänomen nicht immer nur als Volksglaube wahrgenommen und sollte später auch mit psychischer Erkrankung in Verbindung gebracht werden.

Farbholzschnitt, nishiki-e (Papier, Farbe). Tsukioka Yoshitoshi, 1890, aus der Serie Shinkei sanjūroku kaisen (Neue 36 Geister).
©National Diet Library, Tōkyō.

Rache, Gerechtigkeit und karmische Wiedergeburten

Beim Phänomen kitsune-tsuki, oder „Fuchsbesessenheit“, spielen Rache und karmische Wiedergeburt eine zentrale Rolle. Zudem wählen Füchse ihre Opfer nicht unbedingt willkürlich aus, sondern
zeigen einen gewissen Gerechtigkeitssinn. Auch eine religiöse Verbindung und die Austreibung als Mittel, um die Besessenheit aufzulösen, lässt sich finden. Zur Einführung in die Thematik der Legenden um kitsune-tsuki nehme ich ein paar Literaturbeispiele unter die Lupe, bei welchen genau die genannten Prinzipien verdeutlicht werden.

Rachegedanken im Nihon ryōiki

Das erste Werk ist das Nihon ryōiki (jap. 日本霊異記). Es wurde zwischen 787 und 822 von einem Mönch namens Kyōkai (jap. 景戒) geschrieben und ist eines der allerersten Schriftstücke, welches sich mit kitsune-tsuki befasst. Zwar bedeuten Füchse in Japan im Allgemeinen nicht immer ein schlechtes Omen, in den im Nihon ryōiki angeführten setsuwa (volkstümliche Gattung der japanischen Erzählliteratur) sind sie aber überwiegend negativ konnotiert. Kitsune müssen aber nicht unbedingt garstig sein, sondern können auch einfach nur schelmisch auftreten, was sich in diesem Werk ebenfalls widerspiegelt. Der zweite setsuwa im dritten Band des Nihon ryōiki, dient als gutes Beispiel für die Thematik kitsune in Legenden seit dem Altertum.

…bald darauf stirbt der Patient und ein Jahr später liegt ein Schüler des Mönchs im selben Raum. Ein Besucher kommt, um den Mönch zu sehen und bindet seinen Hund an einen Pfosten. Der Mönch sieht, wie der Hund sich gegen die Ketten wehrt und sagt dem Besucher, er solle diesen doch freilassen: Sobald der Hund freigelassen wird, läuft dieser in den Raum des kranken Schülers und kommt heraus mit einem Fuchs in seinem Maul. Obwohl der Besucher versucht, den Hund zu bändigen, lässt dieser nicht los und beißt den Fuchs zu Tode. Es ist offensichtlich, dass die tote Person als Hund wiedergeboren worden ist, um Rache am Fuchs zu üben. Ah! Rache kennt keine Grenzen. (übersetzt nach Izumoji 1996:131–133)

In diesem setsuwa lassen sich wesentliche Charakteristika zu kitsune-tsuki-Geschichten finden, auch ohne darin den Begriff „Besessenheit“ zu verwenden. Rache ist ein wesentliches Prinzip, das in diesem Text zum Vorschein kommt. Der Verstorbene, welcher als Hund wiedergeboren worden ist, stürmt in das Zimmer, um den Fuchs zu töten. Dieser Rachegedanke erstreckt sich über den Tod, und es zeigt sich wirklich, dass Rache in diesem setsuwa keine Grenzen kennt. Hier zeigt sich auch ein weiteres Charakteristikum, nämlich das Prinzip der karmischen Verbindung über mehrere Wiedergeburten hinweg. Neben diesen beiden Prinzipien ist es auch wichtig zu erwähnen, dass es nicht zufälligerweise ein Hund ist, welcher als Gegenspieler zum Fuchs auftritt. Hunde sind in den Legenden, aber auch in traditionellen Überlieferungen nämlich häufig die Widersacher von Füchsen.


Fragment einer illustrierten Erzählung des Genji monogatari; ©Gotoh Museum, Wikimedia Commons

Der Fuchsgeist im Genji monogatari

Das nächste Schriftwerk ist das überaus bekannte Genji monogatari (jap. 源氏物語). Es entstand Anfang des 11. Jahrhunderts und wird Murasaki Shikibu zugeschrieben. Wann es vollendet wurde, ist jedoch unklar. Das Werk ist der erste Roman der japanischen Literaturgeschichte, und kitsune werden, wie im vorherigen Werk, nur erwähnt und spielen nicht die Hauptrolle im gesamten Werk. Eine Textstelle im Genji monogatari beschreibt jedoch, dass Genjis Frau von einem spirituellen Wesen besessen ist. Im Körper des Mediums verlangt der Geist eine Privataudienz bei Genji und gibt darauffolgend seine Identität preis. Genji reagiert darauf entsetzt:

Bist es wirklich du? Ich habe gehört, dass Füchse und andere böse Kreaturen manchmal verrückt werden und versuchen, die Toten zu verleumden. Sag mir ganz klar, wer du bist oder gib mir ein Zeichen, etwas, das für andere zwar bedeutungslos scheinen mag, jedoch für mich unverwechselbar ist. Dann werde ich dir Glauben schenken. (übersetzt nach Seidensticker 1976:617–618)

Erzählungen spielen gerne damit, dass spirituelle Wesen nicht sofort identifiziert werden können. Häufig offenbart sich der Geist dann durch ein Medium und gibt seine Identität und die Ursache für sein Kommen preis. Diese Unbestimmtheit der Besessenheit wirft letztlich die Möglichkeit auf, dass der Geist sich auch verstellen kann. Diese Möglichkeit wird in zahlreichen Berichten rund um kitsune realisiert.

Austreibung der Fuchsbesessenheit

Das dritte Werk ist das Fusō ryakki (jap. 扶桑略記). Es ist eine Darstellung der Geschichte Japans von der Zeit des Jinmu Tennōs (jap. 神武天皇, geb. 711 nach mythologischer Zeit) bis hin zur damaligen Gegenwart (Heian-Zeit, 794-1185). Eine Textstelle darin beschreibt die Besessenheit einer früheren Kaiserin, welche nach einer dreitägigen Zeremonie geheilt wird.

Am Morgen des vierten Tages schrie die Kaiserin laut auf, krümmte ihren Körper und wälzte sich so heftig auf dem Boden, dass das Schlafzimmer fast zusammenbrach. In der Zwischenzeit erschien aus der nordwestlichen Ecke des Bettvorhangs ein Fuchsgeist, der ängstlich in alle Richtungen hin und her lief. Der Berater und alle anderen, die anwesend waren, zitterten vor Angst und verloren ganz die Geistesgegenwart. Dann las der Abt das Mantra der Erlösung, woraufhin das Haus aufhörte zu zittern und der Fuchs verschwand. (übersetzt nach De Visser 1908:35)

Es zeigt sich in diesem Text, wie langwierig eine Austreibung des Fuchsgeistes sein kann und auch die direkte Verbindung mit Religion ist hier klar ersichtlich. Es lässt sich auch erkennen, dass es durch rituelle Austreibung einen Ausweg aus der Besessenheit gibt. Das Fusō ryakki zeigt außerdem auf, dass kitsune-tsuki ein wichtiges Mittel für Füchse ist, um Rache auszuüben. 

Auch in weiteren Werken, wie unter anderem dem Konjaku monogatari-shū (jap. 今昔物語集, dt. Geschichten aus der Vergangenheit) und später dem Uji shūi monogatari (jap. 宇治拾遺物語, dt. Erzählungen des Hofmarschalls von Uji) lassen sich Textstellen zur Besessenheit durch kitsune finden.

Ein kitsune in Mönchsgestalt aus einem komödiantischen Theaterstück. Fuchsschrein (Konkai) ©Tsukioka Yoshitoshi (1886), Rijksmuseum

Der einäugige Fuchs otora-gitsune

In der Heian-Zeit haben sich neben den angeführten Legenden auch traditionelle Geschichten entwickelt. Diese können von Region zu Region verschieden sein. Eine Geschichte, auf die wir nun genauer eingehen, handelt von otora-gitsune (dt. Der Fuchs Otora). Der Name otora rührt von einem Mädchen einer wohlhabenden Familie her. Diese war nämlich das erste Opfer eines gewissen Fuchsgeistes. Die Geschichte entstand nach der Schlacht von Nagashino (1575) und erzählt von einem Fuchs, welcher in Mikawa (heute: Präfektur Aichi) wohnte. Der Fuchs war Bote des Inari-Schreins beim Schloss Nagashino (jap. 長篠城). Während der Schlacht verlor er nicht nur aufgrund eines Brandes sein Zuhause, sondern wurde auch beschossen, wodurch sein linkes Bein und sein linkes Auge verletzt wurden. Der erboste Fuchs rächte sich an den nahewohnenden Dorfbewohnern. Das Mädchen otora war die erste Person, von der Besitz ergriffen wurde. Es wird auch gesagt, dass Menschen, welche von otora-gitsune besessen sind, Probleme mit ihrem linken Auge und ihrem linken Bein bekommen. Während sie von otora-gitsune besessen sind, sollen manche auch über die Schlacht von Nagashino sprechen. Die Geschichte zeigt, dass Rache auch hier ein wesentliches Prinzip für kitsune darstellt. Der Gerechtigkeitssinn spiegelt sich darin wider, dass otora-gitsune als Erstes das Mädchen einer wohlhabenden Familie befällt. Häufig geht es dabei darum, von den
Reichen zu nehmen und den Armen zu geben.


Vorderer Yamazumi-Schrein; ©Alpharigid, CC BY-SA 4.0

Schreinbauten zur Heilung

Der Inari-Glaube, in dem Füchse eine wichtige Bedeutung haben, spielt eine wesentliche Rolle. Manche Inari-Schreine können aufgesucht werden, um sich von kitsune-tsuki heilen zu lassen. Im Fall von otora-gitsune gibt es jedoch einen spezifischen Schrein, welcher nicht Inari zugeschrieben ist, nämlich den Yamazumi-Schrein (jap. 山住神社). Dieser ist nämlich unter anderem O-Inusama (jap. 御犬様, wtl. „Herrn Hund“) gewidmet und dieser Schrein, der demnach als Hunde- (bzw. Wolfs-)Schrein bekannt ist, sollte von Leuten aufgesucht werden, welche von otora-gitsune besessen sind. Dadurch lässt sich gut erkennen, dass Hunde bzw. Wölfe nicht nur in Legenden als Gegenspieler agieren. Denn auch Schreinbauten werden genutzt, um Menschen von der Fuchsbesessenheit zu heilen.

Fuchsbesessenheit und psychische Krankheit

Besonders interessant war der Standpunkt der Psychiatrie in der späten Edo-Zeit (1603-1868), als sich bedeutende Kampo-Praktiker (jap. 漢方, japanischer Name für Pflanzenheilkunde mit Wurzeln aus der traditionellen chinesischen Medizin) mit dem Phänomen beschäftigten. Einer davon war Kagawa Shūtoku (jap. 香川修徳, 1683-1755). Seiner Auffassung nach wurde eine psychische Störung als kan (jap. 癇, übersetzt „Reizbarkeit“) verstanden. Laut Kagawa tritt Fuchsbesessenheit sehr selten auf und nur Leute mit Veranlagung zu kan können betroffen sein. Dies ist jedoch nur eine der vielen Auffassungen über kitsune-tsuki zu jener Zeit. Zwar gab es bereits in der Heian-Zeit Ansätze, das Phänomen als „Krankheit“ zu beschreiben, jedoch verstärkte sich diese Ansicht erst während der Edo-Zeit. Es war häufig die Erklärung für abnormales Verhalten.

Es kam auch vor, dass Leuten kitsune-tsuki zugeschrieben wurde, obwohl sie lediglich körperliche Krankheiten wie beispielsweise Fieber hatten. Daran lässt sich erkennen, dass häufig eine bereits bestehende Krankheit durch kitsune-tsuki erklärt wurde. Die Meiji-Restauration leitete eine Modernisierung und Verwestlichung Japans ein, und die westliche Medizin sollte kitsune-tsuki als eine Form von Geisteskrankheit definieren. Der deutsche Arzt Erwin von Bälz schrieb 1885 die erste wissenschaftliche Abhandlung zu kitsune-tsuki und verlieh der Krankheit den Namen alopecanthropy. Der rege Austausch in der Psychiatrie zwischen Japan und Deutschland hatte ein System zur detailreichen Erfassung von Fallgeschichten zufolge und dies beeinflusste den japanischen Diskurs über die Merkmale psychischer Erkrankungen. Kadowaki Masae (jap. 門脇真枝, 1872-1925) lieferte mit ihrer Arbeit A new treatise on fox possession (1902) eine Sammlung detaillierter Erzählungen über das Leben unter Fuchsbesessenheit. Kitsune-tsuki kann als ein kulturgebundenes Syndrom verstanden werden, das nur in der japanischen Kultur vorkommt. Direkte Vergleiche bzw. das „Übersetzen“ in andere Krankheiten erweist sich daher als sehr schwierig. Aus diesem Grund wurden bei größeren Fallstudien meist sowohl Berichte klinischer Psychiatrie als auch ethnologische Berichte miteinbezogen. Abschließend lässt sich sagen, dass kitsune-tsuki viele verschiedene Facetten aufweist und daher sowohl in der Literatur als auch in der Psychologie ein interessantes Phänomen darstellt.

Pressetext (verfasst im November 2022):

Auch heute noch haben yōkai (jap. 妖怪) eine hohe Bedeutsamkeit in der Kultur Japans. Besonders gut erkennen lässt sich dies in Werken der japanischen Populärkultur, wie unter anderem Anime und Manga. Die Herkunft verschiedenster yōkai ist häufig mit Legenden verbunden und ihre Anzahl und Vielfältigkeit im japanischen Volksglauben ist ausgesprochen groß. Auch die Verbindung mit Religion ist nicht ungewöhnlich, im Gegenteil, häufig sogar eng mit deren Ursprung verknüpft. Durch die Interpretation ihrer Geschichten, traditionellen Überlieferungen und künstlerischen Darstellungen können wichtige Verknüpfungen zur Kultur Japans in bestimmten Perioden hergeleitet werden.

Einer von vielen yōkai sind kitsune (jap. 狐), was eigentlich Fuchs bedeutet, aber in diesem bestimmten Zusammenhang vielmehr mit Fuchsgeistern übersetzt werden kann. Diese Fuchsgeister sind häufig dafür bekannt, Besitz von Menschen zu ergreifen. Dieses Phänomen wird kitsune–tsuki genannt. Das Zeichen für tsuki (jap. 憑) bedeutet so viel wie „beherrschen“ und wird im Kontext von Besessenheit verwendet. Im japanischen Volksglauben gibt es jedoch nicht nur Füchse, welche Besitz von Menschen ergreifen, sondern beispielsweise auch tanuki (Marderhunde).

In meiner Forschungsarbeit wurden verschiedene historische Texte, Legenden und Berichte zu kitsune–tsuki analysiert. Bereits im japanischen Altertum (4. Jh.–12. Jh.) lassen sich Texte mit Bezug auf kitsune–tsuki finden, wie beispielsweise im außerordentlich bekannten Genji monogatari (dt. Die Geschichte vom Prinzen Genji), welches von Murasaki Shikibu geschrieben wurde. Rache, Gerechtigkeit oder auch Wiedergeburt stehen oftmals im Vordergrund der (traditionellen) Geschichten und Legenden rund um das Phänomen. Im japanischen Mittelalter (12. Jh.–16. Jh.) kamen zudem darstellende Künste wie nōh und kyōgen hinzu, welche kitsune–tsuki in ihre Aufführungsstücke mit einbezogen. Weiters erlangten kitsune in der japanischen Neuzeit (16. Jh.–19. Jh.) im Inari-Glauben an besonders hohe Bedeutung.

Einen sichtbaren Umschwung der Sichtweise von kitsune–tsuki als reinem Volksglauben gab es jedoch vermehrt in der späten Edo-Zeit (Anfang 19. Jh.). Zwar gab es Ansätze von kitsune–tsuki als „Krankheit“ bereits im japanischen Altertum, jedoch wurde das Phänomen erst zur späten Edo-Zeit vermehrt aus dem Standpunkt der Psychiatrie betrachtet und folglich mit psychischer Krankheit in Verbindung gebracht.

Sommer, Sonne, Strand und Heer – Das US-Militär in Okinawa

Okinawa, das Hawaii Japans. Allerdings befinden sich dort, gleich neben den weitläufigen Stränden und hinter dem kristallklaren Pazifik, noch immer 31 US-Militärbasen. Obwohl die Verwaltung der Präfektur Okinawa bereits 1972 von den USA an Japan zurückgegeben wurde, besteht die Militärpräsenz der Vereinigten Staaten auf der japanischen Inselkette weiter. Auch 50 Jahre nach der Rückgabe machen die dort stationierten Militärs weiterhin rund 70 Prozent der gesamten US-Militärpräsenz in Japan aus. Viele der damit einhergehenden Konflikte sind bislang nicht gelöst. Sogar in einem Videospiel wurde die Problematik schließlich aufgegriffen. Das Thema – besonders die Uneinigkeit um die geplante Verlegung des US-Luftwaffenstützpunkt Futenma – habe ich daraufhin mit einem Vergleich untersucht.

Der Konflikt um die US-Militärbasen in Okinawa und die Darstellung im Videospiel „Yakuza 3“

Diskussionen um die US-Militärpräsenz in Japan gibt es seit Beginn der Besatzungszeit gleich nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Verwaltung der Präfektur Okinawa war von 1945 bis 1972 in den Händen der USA. Die Streitfrage um die Verlegung der Marine Corps Air Station Futenma (MCAS Futenma) nach Henoko kam erstmals 1995 auf, und Bürgerbewegungen, die sich dagegen aussprachen, konnten 2009–10, während Yukio Hatoyamas Kandidatur und Amtszeit als Premierminister sogar auf politischen Rückenwind setzen. Den zentralen Konflikt im Videospiel „Yakuza 3“ (im Original 龍が如く3 Ryū ga Gotoku 3), das im März 2009 in Japan veröffentlicht wurde, stellt ebenfalls der Streit um den Bau einer weiteren US-Militärbasis in Okinawa dar.

In der japanologischen Forschung gibt es eine umfassende Menge an Werken, Journal- sowie Nachrichtenartikel zum Thema US-Militär, Japan und Okinawa. Die Streitpunkte und Diskussionen sind zahlreich, und eine Lösung zu finden scheint schwierig. In digitalen Spielen hingegen sind Okinawa – im Gegensatz etwa zu Tokyo, der anziehenden Großstadt – oder das Problem der amerikanischen Militärstützpunkte kaum ein Handlungsort oder -thema. Hier widme ich mich der sehr realen Debatte um die Futenma Air Station und der angestrebten Verlegung und dem ähnlichen Handlungsstrang in „Yakuza 3“ mit einem Vergleich.

Okinawa, (k)ein Paradies für alle

Am 15. Mai 1972 wurde, nach der US-amerikanischen Besatzung, die Verwaltung von Okinawa an den Staat Japan zurückgegeben. Die USA nutzten den 27 Jahre langen Zeitraum gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945, um ihre Militärpräsenz in Japan auf- und auszubauen.


„Japanese Emperor Naruhito (seen on screen) virtually attends a ceremony being held in the Okinawa Prefecture city of Ginowan on May 15, 2022, to mark the 50th anniversary of the southern prefecture’s reversion to Japan from U.S. rule.“ ©Yuki Yamaguchi, KYODO NEWS

Die Präfektur Okinawa macht bloß einen kleinen Bruchteil der gesamten Landesfläche Japans aus und beherbergt weniger als 1 Prozent der japanischen Bevölkerung. Trotzdem befinden sich dort noch immer mehr als 70 Prozent der US-Militäreinrichtungen in Japan. Umwelt und Natur werden ebenfalls durch eine erhöhte Luftverschmutzung und den Bau von Militäreinrichtungen auf Privatgrund und Naturschutzgebiet belastet. Auch die Möglichkeit, die Inseln als Tourismusstandort auszubauen, und das wirtschaftliche Potenzial der Gegend so zu vermarkten, wird durch die US-Militärpräsenz beeinflusst. Allerdings leidet Okinawa, gleich vielen anderen ländlichen Gegenden, darunter, dass Personen aus den jüngeren Generationen in die Städte und auf die Hauptinseln Japans abwandern. Hohe Arbeitslosigkeit und ungünstige Lohnverhältnisse hemmen auch so Okinawas wirtschaftliche Entwicklung. Okinawas Dasein als iyashi no shima 癒しの島, „Insel der Heilung“, gilt kaum für die dort lebende und arbeitende Bevölkerung. Von Okinawas „3Ks“— kichi 基地, die (US-)Militärstützpunkte, kankō 観光, der Tourismus, und kōkyō jigyō 公共事業, die öffentlichen Gelder, die die Wirtschaftlichkeit der Präfektur bestimmen, haben unmittelbar nach der Rückgabe an Japan nur öffentliche Gelder wesentlich zum ökonomischen Wandel der Region beigetragen.

Ein ungleiches Abkommen – das US-Japanische Status of Forces Agreement, SOFA

Ein Vergleich der SOFAs von USA–Japan und anderen Ländern (Deutschland, Italien) ©The Mainichi.
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„Scene of President Eisenhower’s Visit to Okinawa, 1960“ ©USMC Archives, Quantico, USA

Obwohl die Anwesenheit des US-Militärs nicht allein für die wirtschaftliche Lage Okinawas verantwortlich ist, so beeinträchtigt die Umweltverschmutzung, die von den Militärbasen ausgeht, doch auch das Ökosystem der Inseln. Probleme, die etwa die Verunreinigung von Land und Gewässern, sowie Abholzung und die Gefährdung bereits vom Aussterben bedrohter Tierarten aufwerfen, sind teilweise ungelöst. Dass die USA Haftung für solcherlei Schäden übernehmen soll, ist aber nicht im SOFA vorgesehen.

Das Status of Forces Agreement, kurz SOFA, wurde am 19. Januar 1960 von den beiden beteiligten Ländern unterzeichnet, um die Bedingungen der (militärischen) Zusammenarbeit zwischen Japan und den USA festzulegen. Allerdings wurden Japan darin kaum Möglichkeiten eingeräumt, die Aktivitäten des US-Militärs auf eigenem Grund und Boden zu regulieren. Neben vom US-Militär verursachten Umweltschäden und zahlreichen (Flug-)Unfällen, fallen so auch Straftaten von US-Militärpersonal nicht unter die Jurisdiktion Japans. Große Aufmerksamkeit erregt in diesem Zusammenhang ein Zwischenfall im Jahr 1995. Die Vergewaltigung eines 12-jährigen Mädchens durch US-Soldaten in Kin Town begründete damals die laute Forderung nach einer Neuregelung des SOFA. Trotz eines Schuldspruchs geht daraus jedoch keine Änderung des Abkommens hervor. Kompromisse zur US-Militärpräsenz in Okinawa, sowie zu den Inhalten des SOFA, wurden und werden immer wieder gesucht, jedoch schwer oder eben gar nicht gefunden.

Der Luftwaffenstützpunkt Futenma – Ein langes Hin und He(e)r

Der Vorfall in Kin Town bestärkt nun nicht nur das Ansinnen einer Überarbeitung des SOFA, sondern resultiert schließlich in der Forderung der Verlegung der Futenma Air Station. Im Jahr 1996 ist das der Beginn einer der größten Debatten zum Thema US-Militär in Okinawa.

Konkrete Ideen, die eine Verlegung der Futenma Air Station ermöglichen sollten, werden Ende 1996 vorgestellt. Darunter gelten die Übersiedlung der Hubschrauberlandeplätze, jeweils an die Kadena Air Base und nach Camp Schwab – jedoch ebenfalls in der Präfektur Okinawa gelegen – und der Bau einer so genannten sea-based facility (kurz SBF) auf einer künstlichen Insel in Henoko in der Bucht Ōura, als gelungene Vorschläge. Allerdings formieren sich schon in den darauffolgenden Monaten Bürgerbewegungen aus Okinawa, die Einwände gegen das Bauvorhaben und den Standortwechsel des Stützpunktes an sich erheben. Zum „Comittee to Oppose the Heliport Construction and Demand the Democratisation of Nago City Government“ – kurz Hantaikyō – schließen sich bis zum Jahresende 1997 insgesamt 21 Gruppen zusammen. Auch südlich um Ginowan formieren sich Protestbewegung gegen eine Verlegung der Futenma Air Station nach Nago, da dies der Forderung widerspricht, das US-Militär gänzlich aus Okinawa auszuweisen. Eine Einigung kann nicht erreicht werden.


普天間飛行場空撮画像 (Aerial image of MCAS Futenma) ©Sonata, Wikimedia Commons

Den nächsten Höhepunkt erfährt die Diskussion um Futenma im Jahr 2009, mit der Amtszeit des damaligen Premierministers Yukio Hatoyama. Hatoyamas Wahlkampf zum Premier ist von dem Versprechen geprägt, dass er sich um die Verlegung der Futenma Air Station außerhalb der Präfektur Okinawa bemühen werde. Hatoyama gewinnt die Wahl zwar, scheitert aber letztendlich daran, konkrete Pläne für die Verlegung Futenmas um zu setzen. Allerdings erhält die Debatte dadurch endlich ihren festen Platz im Interesse der Zentralregierung Japans.

„Yakuza 3“

Die Ryū ga Gotoku-Serie, international unter dem Titel „Yakuza“ vermarktet, widmet sich regelmäßig dem Protagonisten Kazuma Kiryu, einem Ex-Yakuza. Die Spielreihe zeigt zuerst kein oder nur wenig Interesse daran, (inter-)nationale und politische Themen in die Spielhandlung einzuarbeiten. Spätere Einträge der Serie stellen solche Inhalte aber sogar in den Mittelpunkt der Story, wie etwa die Polizeikorruption in „Yakuza 4“, oder Manipulationsversuche in der Sport- und Unterhaltungsindustrie, sowie die Thematik der „Anti-Yakuza Gesetze“ in „Yakuza 5“. Die Hauptfigur Kiryu selbst kehrt nach einem Gefängnisaufenthalt dem organisierten Verbrechen den Rücken. Allerdings wird er doch immer wieder in die Machenschaften und Machtkämpfe der Yakuza involviert, was den primären Handlungsstrang der Spiele begründet.

„Okinawa City downtown“ ©From Okinawa! The Useless Photo Collection



„Miebashi Station of Okinawa monorail“ ©From Okinawa! The Useless Photo Collection

In „Yakuza 3“ leitet Kiryu ein Waisenhaus und Hauptort der Handlung ist nun, statt Tokyo und der Großstadt-Atmosphäre, das idyllische Okinawa. Die Szenerie gleicht auf den ersten Blick der Werbung in einem Reiseführer. Neben Minispielen, wie Golf, Karaoke, Poker und Angeln, oder in Nebenmissionen (das sind spielbare Einheiten, die eigene Handlungsstränge verfolgen, die jedoch keinen weiteren Einfluss auf die Haupthandlung haben), kann man aus der third-person Perspektive die Welt des fiktiven Downtown Ryukyu und die unmittelbare Nachbarschaft genießen. Mit Kiryu geht man auf eine Art Erkundungstour, wobei man auf andere Bewohnern*innen des Bezirkes rund um das Waisenhaus trifft oder in der Markthalle in Downtown Ryukyu mit den Ladenbesitzer*innen redet. NPCs (non-player characters), wie etwa ein junger Mann, der in der tinsagu nu uta てぃんさぐぬ歌, „As the Rose Balsam Blooms“-Nebenmission das okinawanische Volkslied tinsagu nu hana てぃんさぐぬ花 singt, oder eine Dame in der Nebenmissions-Serie Kiryū ga eikaiwa ni chōsen 桐生が英会話に挑戦, „Let’s Learn English (1–4)“, die Kiryu dazu motiviert, Sprachübungen im Englischen zu machen, oder auch Urlaubsreisende in der Downtown-Gegend malen im kulturellen und sozialen Leben des fiktiven Ryukyu ein Bild, das dem wirklichen Okinawa nachempfunden ist. Aber eben auch die Zweifel und Sorgen im Zusammenhang mit dem unmittelbaren Vorhaben der japanischen Zentralregierung sprechen die NPCs an.

龍が如く3 Ryū ga Gotoku 3, „Yakuza 3“ ©Sega

„Protect Okinawa!“ und „Marines, Go Home!“

Kiryus heile Welt wird erschüttert, als das Grundstück, auf dem das Waisenhaus steht, sowie die gesamte Nachbarschaft verkauft werden sollen. Als die ortsansässige Yakuza Familie mit Gewalt versucht, Kiryu zum Verkauf zu treiben, wird schließlich auch der Tojo-Klan aus Tokyo involviert. Währenddessen bewerben zwei japanische Regierungsmitglieder, der Verteidigungsminister Ryuzo Tamiya und der Landwirtschafts- und Tourismusminister Yoshinobu Suzuki, beide von der „Citizens Liberal Party“ – dem fiktiven Pendant zur japanischen Liberal Democratic Party – ihre unterschiedlichen Vorstellungen, wie die zu verkaufende Fläche zu nutzen sei.

Tamiya möchte in Okinawa einen weiteren Militärstandort der USA errichten und ein neues Raketenabwehrsystem bauen lassen. Suzuki visiert den Ausbau einer Ferienanlage an. Beide sind am Posten des Premierministers bei der nächsten Wahl interessiert. Die Cutscene, in der die unterschiedlichen Pläne der beiden Minister präsentiert werden, sieht Kiryu als einen Nachrichtenbeitrag im Fernsehen:

龍が如く3 Ryū ga Gotoku 3, „Yakuza 3“ ©Sega

Suzuki äußert sein Verständnis für die Notwendigkeit einer verlässlichen militärischen Verteidigung Japans, hält aber fest, dass er dies nicht auf Kosten Okinawas tun möchte. Eine Ferienanlage würde stattdessen Okinawas Tourismus und dadurch die Wirtschaft rasant ankurbeln und neue Arbeitsplätze und Möglichkeiten für die Bevölkerung schaffen. Tamiyas Stellungnahme ist ganz kurz. Außer, dass die Verteidigung Japans sein Anliegen sei, hätte er nichts zu sagen. Gleich darauf werden Bilder einer Protestversammlung eingeblendet, bei der die demonstrierenden Bürger*innen den Plan einer neuen Militäranlage vehement ablehnen. Bei Befragungen auf der Straße äußert sich eine Dame dazu, dass es in Okinawa ja sowieso schon von US-Soldaten wimmle. Ein junger Mann stellt fest, dass, wenn auf Japan Raketen geschossen würden, sich der Angriff wohl eher auf Tokyo als auf Okinawa richten würde.

Ein Bildausschnitt aus Ryū ga Gotoku 3 (2009) ©Sega & „Protesters chant slogans opposing the relocation
of U.S. Marine Corps Air Station Futenma“ ©The Mainichi

Im weiteren Spielverlauf werden die noch viel verschlungeneren Hintergrunde von Tamiyas Vorhaben aufgeklärt. Nicht nur das US-Militär, sondern auch die amerikanische CIA und die geheime, globale Organisation Black Monday sind involviert. Und Tamiyas ehemaliger Sekretär, Shoyo Toma, entschließt sich zum Alleingang – Toma selbst stammt aus Okinawa und ist in die Politik eingestiegen, um eine Verbesserung in seiner Heimat zu bewirken.

Jede Lösung ist ein neues Problem

Der Streit um den Bau einer weiteren US-Militärbasis steht im Mittelpunkt der Handlung von „Yakuza 3“. Okinawa spielt nicht nur als neuer Ort eine Rolle, sondern auch, wenn es um die Frage geht, was die Zentralregierung Japans für die Präfektur vorsieht, und was die Bevölkerung Okinawas darüber denkt. Außerdem stehen die USA nicht nur im Zusammenhang mit ihrer Militärpräsenz in Okinawa als die Kontrahenten da, sondern auch als CIA-Mitglieder und als die Begründer von Black Monday.

Interesse an einem wirtschaftlich und gesellschaftlich blühenden Okinawa bekunden der fiktive Landwirtschaftsminister Suzuki und sein Sekretär Toma, genauso wie Japans ehemaliger Premier Yukio Hatoyama in seiner Wahlkampf- und Amtszeit. Auch wenn die zu errichtende Militärbasis im Spiel keinen Namen trägt, so gleichen die Bilder demonstrierender Massen denen der Proteste gegen die Verlegung von Futenma.

Sitzstreik in Henoko, 2019 ©Judith Brandner

Bis heute ist keine Lösung für die Futenma Air Station gefunden worden, die die Zustimmung aller Parteien hätte. Okinawa bleibt ein begehbarer Ort in späteren Spielen der „Yakuza“-Reihe, aber eine Antwort auf die Frage, ob auf dem Grundstück von Kiryus Waisenhaus gebaut wird, gibt es nicht. Da Kiryus Geschichte 2016 beendet wurde, bleibt offen, ob im fiktiven – wie auch im realen – Okinawa jemals eine Entscheidung, hinsichtlich der US-Militärpräsenz in Japan und dem Bau weiterer Militärbasen, getroffen werden wird.

Pressetext (verfasst im November 2022):

Ein 50-Jahr-Jubiläum nach 27 Jahren der Besatzung, 31 aktive Militärstützpunkte und 70 Prozent der US-Militärpräsenz in Japan – das ist eine Formel mit vielen Variablen. Der Konflikt um die zahlreichen US-Militärbasen auf der Inselgruppe Okinawa ist noch längst nicht gelöst.

Das Status of Forces Agreement, kurz SOFA, wurde am 19. Januar 1960 von Japan und den USA unterzeichnet, um den Rahmen für die fortlaufende militärische Zusammenarbeit beider Länder festzulegen. Dabei ist dessen Auslegung – im Gegensatz zu anderen Abkommen, die dem Zweiten Weltkrieg folgten, etwa zwischen den USA und Deutschland oder Italien – so gestaltet, dass Japan kaum Möglichkeiten besitzt, die Aktivitäten des US-Militärs zu kontrollieren oder zu regulieren. Am 17. Juni 1971 wurde der Vertrag zur Rückgabe von Okinawa an Japan in Washington, D.C. und Tokyo unterschrieben. Davor nutzten die USA fast dreißig Jahre lang ihre verbliebene Besatzungsmacht in der südlichsten Präfektur Japans, um ihre Militärpräsenz im Pazifik auf- und auszubauen.

Die Präfektur Okinawa, ihre zahlreichen Inseln, machen nur einen Bruchteil der gesamten Landesfläche Japans aus und beherbergen weniger als 1% der japanischen Bevölkerung. Dennoch befinden sich dort zurzeit immer noch mehr als 70% der in Japan vorhandenen US-amerikanischen Militärstützpunkte. Die US-Militärpräsenz steht im Konflikt mit Umwelt- und Naturschutz, aber auch wirtschaftliche Interessen wie die Möglichkeit, Okinawa als Tourismusstandort auszubauen, werden von der Anwesenheit von U.S. Air Force, Navy und Marine Corps überschattet. Vor allem der jahrzehntelange Konflikt um die Verlegung des Militärstützpunkts Futenma – zuletzt nach Henoko, in der Bucht Ōura – ist ein großer Streitpunkt. Das Zentrum der Handlung im Videospiel Yakuza 3, das im März 2009 in Japan auf den Markt kam, stellt ebenfalls das Tauziehen um den Bau einer weiteren US-Militärbasis dar.

Okinawa steht nur selten im Mittelpunkt der Handlung von Filmen, Büchern oder Videospielen, und oft wird bloß die Tourismusregion, der idyllische Urlaubsort, dargestellt. In Yakuza 3 werden jedoch auch die konfliktreichen Umstände – die Verlegung Futenmas, die Kandidaturen und Wahlkämpfe zum Premierminister und die Position der USA – in fiktiven Rollen wiedergegeben. Dem Bau einer Ferienanlage wird die Installation eines Raketenabwehrsystems an einer neuen US-Basis entgegengestellt. Dadurch sieht sich die Anwohnerschaft nahe dem fiktiven Downtown Ryukyu um Haus und Hof bedroht.

Interesse an einem wirtschaftlich und gesellschaftlich blühenden Okinawa bekundete sowohl der ehemalige Premierminister Yukio Hatoyama in seiner Wahlkampf- und Amtszeit in den 2000ern als auch die Politiker im Videospiel. Auch wenn die zu errichtende US-Militärbasis in Yakuza 3 keinen Namen trägt, so gleichen die Bilder demonstrierender Massen im Spiel jenen der Proteste gegen die Verlegung von Futenma.
In der Forschungsarbeit wurden Ausschnitte aus dem Videospiel mit Szenen der Demonstrationen und Proteste gegen eine Umsiedelung der Marine Corps Air Station Futenma verglichen.

Japanische Baseball-Trainer im Anime: was erzählen sie uns von Japan?

Populärkultur ist kein Kinderkram, sondern ein Spiegel der Gesellschaft. Anime, Manga und Videospiele reflektieren soziokulturelle Aspekte und Diskurse. Setzt man sich also mit der Darstellung und den dahinter liegenden Konzepten auseinander, gibt es in Anime so einiges zu entdecken. Ich habe die Trainer des Baseball-Anime Ace of the Diamond unter die Lupe genommen und dabei festgestellt, dass Baseball in Japan nicht nur ein Sport ist. Samurai, Medien und das japanische Schulsportsystem – sie alle kommen im Schmelztiegel Sport-Anime zusammen und verraten dabei so einiges über die japanische Gesellschaft.

Mehr als nur Unterhaltung

„Shōgun! Ich bin hocherfreut!“, ruft der junge Sawamura mit ganzer Kraft und verbeugt sich tief und ehrfurchtsvoll vor Kataoka, der mit ernster Miene auf ihn hinabblickt.

Diese Szene könnte doch glatt aus einem Samurai-Film sein, nicht wahr? Ist sie allerdings nicht, denn Sawamura ist ein 16-jähriger Baseballspieler im Schulsportclub der Seidō Oberschule und Kataoka ist sein Trainer. Genau genommen sind die beiden Figuren aus Ace of the Diamond, einem Baseball-Anime aus dem Jahr 2013. Was hat es damit auf sich, dass Sawamura seinen Trainer mit dem Titel eines Militärführers aus Japans Feudalzeit anspricht? Sehen wir uns das mal genauer an.

Anime sind eine Bühne für gesellschaftliche Themen. Sie sind, gemeinsam mit Manga, Videospielen oder auch Fernsehserien, ein Teil der japanischen Populärkultur. Populär bedeutet hier nicht, dass sie beliebt sind – obwohl das natürlich auch zutrifft – sondern es weist auf den Charakter dieser Medien als Massenkultur hin. Und gerade weil sie für die Massen sind, also sich viele Leute an populärkulturellen Produkten erfreuen, sind sie ein ideales Darstellungs- und Transportmittel für gesellschaftliche Themen und Diskurse.

Schau genau

Anime, Manga und ihre Verwandten sind also weit mehr als nur Unterhaltung. Natürlich muss man dafür schon genauer hinsehen, und sich damit auseinandersetzen, wie Figuren und Geschehen dargestellt werden. Nur so kann man herausfinden, welche Aspekte der japanischen Kultur und Gesellschaft darin widergespiegelt werden. Ebenso wichtig ist es aber auch, dass man über die historischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Japan Bescheid weiß, damit man das Gezeigte richtig interpretieren kann. Wenn man also weiß, dass es die Kinder ehemaliger Samurai im späten 19. Jahrhundert waren, die den Schlagballsport praktizierten und die Ideologie der Samurai auf ihr Baseballspiel übertrugen, dann ist die Bezeichnung Shōgun für den Trainer gar nicht mal mehr so abwegig. Jedoch verbirgt sich weit mehr dahinter als nur der Spaß jugendlicher Samurai.

Samurai Baseball… ?

Sport hat in Japan eine wichtige Rolle, allerdings nicht nur zur körperlichen Ertüchtigung und als kommerzieller Zuschauersport. Er fungiert auch als Träger von Japans historischem Erbe. Hier ist aber nicht die Rede von beleibten Männern, die, nur mit einem Lendentuch (mawashi) bekleidet, in einem Sandring gnadenlos aufeinander krachen. Nein, die Sprache ist von Baseball, dem japanischen Nationalsport. Baseball verkörpert wie keine andere Sportart – zumindest in der Idealvorstellung – die vermeintlichen Werte der Samurai wie Loyalität und Aufopferungsbereitschaft.

Die Geschichte des japanischen Baseball beginnt mit der Einführung der Sportart in Japan in den Jahren 1872/73, kurz nach der Landesöffnung zu Beginn der Meiji-Zeit. Amerikanische Lehrkräfte, die an den damaligen Eliteschulen wie etwa der Ersten Oberschule (Daiichi kōkō) unterrichteten, brachten den Sport ihren japanischen Schülern bei. An diesen Schulen wurden vorrangig Kinder ehemaliger Samurai unterrichtet und sie übertrugen deren Ideologie auf ihr Baseball-Spiel. Zu jener Zeit waren die Spiele zwischen den Schülern der Ersten Oberschule und dem amerikanischen Yokohama Athletic Club besonders prägend für die Popularität des Sports. Aus insgesamt 13 Spielen zwischen 1896 und 1904 verlor die Jugendmannschaft der Daiichi kōkō nur zwei. Die wiederholten Siege wurden auch von den Medien intensiv verfolgt und gefeiert, was zu einer Verbreitung des Sports führte.

Die Japanisierung des Baseballs durch Übertragung der Samurai-Ideologie auf den Sport muss auch vor dem damaligen politischen Hintergrund gesehen werden. Japan bemühte sich zu jener Zeit um eine Neuverhandlung der Ungleichen Verträge und strebte nach einem neuen Nationalbewusstsein und einer Gleichstellung mit westlichen Ländern. Dieses Vorhaben fand einen Widerhall im Baseball. Die Sportart entwickelte sich daher zu einer mit ideologischen Werten aufgeladenen Disziplin. Grundsätzlich handelt es sich bei Samurai Baseball um ein Konstrukt, das je nach Zeit und Akteur zu bestimmten Zwecken instrumentalisiert wurde.

Die Berichterstattung durch die Massenmedien, die ihren eigenen Vorteil aus der wachsenden Popularität von Baseball ziehen wollten, spielt hier eine wichtige Rolle, insbesondere bei der Inszenierung der Nationalen Oberschulen Baseball Meisterschaft. Die Teilnahme am Kōshien – so wird das Turnier genannt – ist auch Sawamuras Traum, den er gemeinsam mit seinen Teamkollegen und seinem Trainer verwirklichen will.

Ace of the Diamond

Schauen wir uns nun etwas genauer an, worum es in Ace of the Diamond eigentlich geht.
Die Geschichte beginnt mit dem Eintritt von Eijun Sawamura in die Seidō Oberschule, die für ihr hervorragendes Baseballteam bekannt ist. Er ist überzeugt, dass sein Können als Pitcher hier Anerkennung findet. Sawamura ist allerdings nicht der einzige Pitcher, der neu an die Schule kommt; Satoru Furuya hat sich ebenfalls entschlossen, dem Seidō Baseballclub beizutreten. Gemeinsam mit ihren Mannschaftskameraden, und insbesondere den beiden Catchern Kazuya Miyuki und Chris Takigawa, kämpfen sie sich von Spiel zu Spiel, mit dem Ziel an der jährlich stattfindenden Nationalen Oberschulen Baseball Meisterschaft, dem Kōshien, teilzunehmen, denn dies ist der Traum der jugendlichen Baseballspieler. Die Teilnahme ist jedoch nur den Besten der Besten bestimmt.

Tesshin Kataoka

Der Trainer, der das Team dabei unterstützt, ist Tesshin Kataoka. Kataoka ist zwar eine wortkarge und strenge Person, dennoch sorgt er sich sehr um sein Team und dessen sportliche Entwicklung. Am wichtigsten ist ihm dabei der Teamzusammenhalt, denn nur mit vereinten Kräften, so meint er, kann es Seidō zum Kōshien schaffen, und nur als Team können sie das Turnier auch gewinnen. Alle Trainer, die im Anime gezeigt werden, sehen das Kōshien als den Höhepunkt des Erfolgs einer Schulmannschaft. Als Zuseher verfolgen wir die einzelnen Teams auf dem mühsamen Weg zu diesem Turnier, der von Tränen, Verzweiflung, Hoffnung, äußerster Anstrengung, aber auch Hingabe zum Sport gezeichnet ist. Die immense Bedeutung, die das Kōshien für die jungen Spieler im Anime hat, kommt nicht von ungefähr. Denn auch im realen Leben verkörpert dieses Turnier die Krone des Oberschulen-Baseballs. Warum aber hat es einen solch hohen Stellenwert? Darauf will ich nun etwas näher eingehen.

Das Kōshien – ein Spielfeld, das die Welt bedeutet

Sawamura kam gerade von der Mittelschule und hatte daher noch nie die Möglichkeit, am Kōshien teilzunehmen. Er möchte jedoch mehr über das Turnier wissen und begibt sich auf eine kleine Begriffsrecherche. Voller Stolz teilt er seinem Teamkollegen, Kuramochi, seine neuen Erkenntnisse mit: „Hör mal, Kuramochi. Wusstest du das?! Der Namensgeber des Stadions war Mizaki Shōzō. Das Stadion wurde im 13. Jahr der Taishō Periode [1924] fertig gebaut, was gleichzeitig auch das 1. Jahr des 60-Jahre-Zyklus [甲子 kōshi] ist. Darum wurde es Kōshien [甲子園] genannt.“

Das Hanshin Kōshien Baseball Stadion ©HANSHIN KOSHIEN STADIUM

Was Sawamura seinem Teamkollegen nicht mitteilt ist, dass das Stadion, genau genommen, Hanshin Kōshien Baseball Stadion (阪神甲子園球場) heißt. Auftraggeber für die Errichtung des Stadions in der Stadt Nishinomiya, nahe Ōsaka, war das japanische Zeitungsunternehmen Asahi Shimbun. Der Name Hanshin kommt von jenem Unternehmen, das den Bau mitfinanziert hat: die Hanshin Electric Railway, einer japanischen privaten Eisenbahngesellschaft. Diese kontrollierte die Zugverbindung zum und vom Stadion und konnte somit, wie auch die Asahi, Profit aus der wachsenden Beliebtheit des Sports und den steigenden Besucherzahlen beim jährlich stattfindenden Oberschulen-Turnier schlagen.

Sehnsuchtsort

Für Spieler und Trainer stehen jedoch nicht kommerzielle Gründe im Vordergrund.

Am Vorabend des alles entscheidenden Auswahlspiels sitzt Kataoka in dem kleinen, an das Spielfeld angrenzenden Besprechungsraum und blickt durch das Fenster in den dunklen Nachthimmel. Am Firmament thront, in ehrfurchtgebietender Größe, ein schimmernder Mond. „Es ist mir egal, ob wir nur knapp oder durch Glück gewinnen. Mir ist alles recht. Ich will die Jungs einfach nur zum Kōshien bringen.“

Keine Szene verkörpert das sehnsüchtige Verlangen nach der Teilnahme an der Meisterschaft so sehr wie diese poetische Inszenierung von Kataokas Perspektive. Sie betont, dass das Kōshien nicht irgendein Turnier ist, sondern der absolute Höhepunkt des japanischen Oberschulen-Baseballs.

Das Turnier ist aber nicht nur Sehnsuchtsort der jugendlichen Sportler und ihrer Trainer*innen, sondern auch der Zuseher*innen. Im 47.508 Personen fassenden Stadion werden jedes Jahr für zwei Wochen im August, in glühender Sommerhitze, idealisierte nationale Werte, verkörpert durch den Eifer und Einsatz der jugendlichen Spieler, medial zelebriert. Das Kōshien, als Standort und Wettbewerb untrennbar miteinander verbunden, versinnbildlicht dadurch auch den Aufstieg und Einfluss der Massenmedien, der Infrastrukturentwicklung und symbolisiert heutzutage den japanischen Geist des Nicht-Aufgebens und des Durchhaltens.

100 Jahre Kōshien

Für das 100-jährige Jubiläum des Kōshien im Jahr 2024 wurde ein (Werbe-)Video veröffentlicht, das die Symbolik des Stadions und des Turniers, und den Zusammenhang von Populärkultur und Realität zeigt. Unter dem Titel „Koshien Forever“ wird eine Montage spannender Wettkampfszenen aus den unterschiedlichsten Baseballmanga – Ace of the Diamond ist auch dabei – gezeigt, während eine helle Frauenstimme im Refrain beschwingt „Ganbatte“ („Gib alles“) singt.

Ein neuer Trainer

Nicht zuletzt ist auch der Status der Schule an die Teilnahme am Kōshien geknüpft. Daher sucht Seidōs Schuldirektor, nachdem der Mannschaft der Einzug in das Turnier nicht geglückt ist, nach einem neuen Trainer. Die Wahl fällt auf Hiromitsu Ochiai, der dem Team die Teilnahme an der Meisterschaft ermöglichen soll. Ochiai und Kataoka vertreten jedoch komplett unterschiedliche Trainingsansätze und Erfolgsstrategien. Während für Kataoka das Team über allem steht, möchte Ochiai nur einen einzigen Spieler, den Pitcher Furuya, fördern. Ochiais Ansicht nach könne Furuya als Starspieler die Teilnahme am Kōshien sichern. Ein Konflikt zwischen den beiden Trainern scheint unausweichlich.


Team vs. Pitcher

Die Spannungen zwischen einem hingebungsvollen Einsatz für das Team und einem individualistischen, gar egoistischen Verhalten wird in anderen Sport-Anime als intra- oder interpersoneller Konflikt unter den Athlet*innen dargestellt. In Ace of the Diamond werden die Sportler jedoch nicht damit belastet, denn hier findet die Auseinandersetzung zwischen den beiden Trainern, Kataoka und Ochiai, statt. Eine Szene bringt diese Gegensätze besonders deutlich zum Ausdruck: Es geht dabei – wie könnte es anders sein – um die alles bedeutende Teilnahme am Kōshien.

Am Ende des Trainingstages treffen Ochiai und Kataoka im Trainerzimmer aufeinander. Ochiai, der entspannt auf der Couch sitzt, schlägt Kataoka vor, sich auf die Ausbildung und Weiterentwicklung des Pitchers Furuya zu konzentrieren: „Wenn ich Haupttrainer wäre, würde ich das Herbstturnier Furuya anvertrauen. Egal ob er gut oder schlecht spielt, ich würde ihn jedes Spiel zur Gänze pitchen lassen. Für einen Sieg ist es ja ausreichend, wenn er als Eckpfeiler des Teams Erfahrung sammeln kann. Das ist der schnellste Weg zum Kōshien.“ Kataoka steht erstarrt neben der Couch und blickt schweigend auf Ochiai hinab. Als er ihm schließlich antwortet, stimmt er diesem zwar zu, dass ein starker Pitcher im Baseball wohl wichtig sei. „Aber“, erwidert er mit einem bedrohlichen Blick auf sein Gegenüber, „es sind die Spieler, die um die Teilnahme am Kōshien kämpfen und ich werde das Team nicht einem einzelnen Spieler opfern!“


Die Moral von der Geschicht’?

Wie geht das Ganze aus? Tatsächlich endet das Gespräch hier und das Thema wird von den Trainern auch nicht mehr aufgegriffen – Kataoka hat jedoch das letzte Wort. Um zu erfahren, wer im Recht ist, muss man sich ansehen, was die anderen Figuren von den beiden Trainern halten. Die Spieler lieben und respektieren Kataoka. Er sorgt sich um sie, er trainiert mit ihnen und sie wünschen sich nichts sehnlicher, als gemeinsam mit ihm am Kōshien teilnehmen zu können. Auch seine Kollegen loben seinen passionierten Einsatz. Ochiais Einstellung hingegen wird von Kataoka und seinen Kollegen kritisiert, und auch die Spieler begegnen dem neuen Trainer mit Misstrauen. Es ist also klar: Kataoka ist der Held und somit ist seine Ansicht die richtige – zumindest in der Animewelt.

In Ace of the Diamond fällt das Kräftemessen von Team vs. Individuum zwar zugunsten des Teams aus, dennoch hat sich die Darstellung dieser Werte im Laufe der Zeit verändert und deutet auf eine zunehmende Wichtigkeit des Individualismus hin.

„Ganz schön teuflisch…“

Ochiai nimmt sich kein Blatt vor den Mund und kritisiert nicht nur Kataokas Taktiken, sondern auch seine Trainingsmethoden. 

Die beiden Trainer beobachten die Jungen beim Pitch- und Schlagtraining. Es ist August, die zirpenden Grillen und Ochiais Outfit – er trägt FlipFlops – deuten auf die Sommerhitze hin. „Ganz schön teuflisch…“, kommentiert er trocken, dass Kataoka seine Schützlinge während der Mittagshitze in praller Sonne trainieren lässt. Dieser hat jedoch seine Gründe und erklärt: „Wir können nur in dieser Jahreszeit Erfahrungen mit der Sommerhitze machen. Darum lasse ich sie jetzt hart trainieren. Egal wie talentiert sie sind, die Spieler sind nur Oberschüler und sie sind diejenigen, denen der Frust in Erinnerung bleibt, wenn sie im Wettkampf nicht alles geben können.“ Die jugendlichen Sportler beschweren sich jedenfalls nicht; sie geben alles im Training. Und nicht nur in der Sommerhitze, auch spät abends schwingen sie noch die Baseballschläger.


„Diese Schule will meinen Sohn zerstören!“

Ochiai ist aber nicht der Einzige, der Trainingseinstellungen kritisiert. Chris’ Vater – ein ehemaliger amerikanischer Baseballspieler – ist geschockt, als er sieht, dass sein Sohn an einem Freundschaftsspiel teilnimmt.

Chris befindet sich eigentlich noch im Rehabilitationstraining, da er sich durch Überbeanspruchung einen Muskelriss in der Schulter zugezogen hat. Dieser ist zwar fast, aber eben noch nicht ganz verheilt, trotzdem wollte der junge Sportler unbedingt mitspielen, und Kataoka hat es ihm erlaubt. Chris’ Vater ist außer sich: „Chris!? Warum spielst du mit?! Diese Schule will meinen Sohn wirklich zerstören!“ Chris antwortet mit einem Lächeln, denn er ist einfach nur froh, dass sein Vater gekommen ist, um ihm beim Spiel zuzusehen. Um seine Schulter macht er sich scheinbar keine Gedanken. Sein Vater sieht das jedoch anders und kritisierte bereits vor diesem Ereignis die japanische Trainingsmentalität: „Noch immer gibt es diese willensbasierte Sportmentalität in Japan, dass man jugendliche Pitcher, deren Körper noch nicht voll entwickelt sind, in der Sommerhitze in mehreren Spielen hintereinander pitchen lässt – in Amerika wäre sowas undenkbar!“


Trainieren wie ein Samurai

Tatsächlich lassen sich einige wissenschaftliche Arbeiten finden, in denen überbordendes Training oder etwa die Mentalität des Nicht-Aufgebens mit Verletzungen im Jugendsport in Zusammenhang gebracht werden. Verletzungen, insbesondere an Ellbogen und Schulter, bedingt durch die wiederholten Wurf- und Schlagbewegungen, sind im Baseball auch bei Jugendlichen häufig. Diese Erkenntnisse beschränken sich jedoch nicht ausschließlich auf Japan, denn auch in den USA erleiden jugendliche Baseballspieler*innen Verletzungen durch Überbeanspruchung, Zusammenstöße oder Balltreffer.

Diese Szenen heben vor allem einen Aspekt hervor, nämlich die Gegenüberstellung von japanisch-traditionellem und westlich-wissenschaftlichem Training: In Japan trainiert man wie ein Samurai, mit hingebungsvoller Aufopferungsbereitschaft für das Team und blindem Gehorsam gegenüber einem autoritären Trainer. In den USA trainiert man nach wissenschaftlichen Methoden. Natürlich entspricht das nicht ganz der Realität. Viel eher zeigt dieser Ausschnitt den Konflikt zwischen einer sich hartnäckig haltenden Samurai-Ideologie und aktuellen soziokulturellen Entwicklungen.

Im Anime nimmt die Geschichte ein gutes Ende, auch im Sinne der japanisch-traditionellen Sportmentalität. Denn schlussendlich erinnert sich Chris’ Vater an seine Zeit als aktiver Spieler und daran, dass auch er ohne Rücksicht auf Verluste trainiert hat, und wünscht seinem Sohn dann doch viel Erfolg im Spiel.

Baseball ist… mehr als nur Baseball

William W. Kelly[1], ein Anthropologe, der sich unter anderem intensiv mit Baseball in Japan auseinandergesetzt hat, beschreibt die Bedeutung der Sportart in Japan folgendermaßen:

„Baseball ist seit langem in das Bildungssystem, die Massenmedien, die Unternehmensstrukturen und die patriotischen Gefühle des modernen Japans eingebettet. In diesem Jahrhundert war es durchwegs ein bedeutender Schauplatz, an dem sich Schulpädagogik, Unternehmensziele, Medienkonstruktionen, Genderverhältnisse und Nationalismus kreuzen. Kurz gesagt, es öffnet den Blick auf und ist Schmelztiegel für die Ideologien und Institutionen des modernen Japans.“ [übersetzt aus Kelly (1998:103)]

Baseball wird auch in Sport-Anime sehr häufig dargestellt, was angesichts der Popularität nicht verwunderlich ist. Gerade weil Baseball in Japan eben nicht nur ein Sport ist, sondern mit allerlei ideologischen Werten assoziiert wird – von Bildung, über die Samurai, bis hin zum Kōshien – eignet sich die Sportart gut, um diese idealisierten Qualitäten in ihrer Reinform im fiktiven Setting eines Anime wiederzugeben. Dieses Genre nennt man übrigens supokon – ein Akronym aus den Begriffen supōtsu (Sport) und konjō (Mut, Willensstärke, Entschlossenheit). Diese Art von Manga, und später auch Anime, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg populär. Darin wurden entsprechend den Anforderungen an die Bevölkerung und vor allem an die Jugend jener Zeit solche Werte besonders hervorgehoben.

In Ace of the Diamond werden diese Idealisierungen durchaus kritisiert – in Form von Ochiai und Chris’ Vater. Auch wenn die Kritik nur vorsichtig angesprochen, und in Folge widerrufen oder negativ bewertet wird, so lässt sich doch erkennen, dass gewisse traditionelle Konzepte hinterfragt werden können.

[1] Kelly, William W., 1998, „Blood and guts in Japanese professional baseball“,
Sepp Linhart und Sabine Frühstück (Hg.): The culture of Japan as seen through its leisure. Albany: SUNY Press, 95–111.


„Das Wichtigste ist… “

Kataoka und Ochiai sind nicht die einzigen Trainer, die im Anime vorkommen. Insgesamt habe ich zehn Trainer in meiner Arbeit analysiert, und diese reflektieren, wie erwähnt, nicht nur Idealvorstellungen, sondern widerspiegeln auch aktuelle Diskurse. Da wäre der gewiefte Raizō Todoroki, der ein Auge auf den monetären Nutzen einer Teilnahme am Kōshien hat, denn erfolgreiche Spiele(r) bringen Geld. Und tatsächlich kommen (unerlaubte) finanzielle Zuwendungen, etwa durch professionelle Vereine an Schulen oder Spieler, durchaus vor.

Der leidenschaftliche Junichi Chiba möchte Kataokas Mannschaft besiegen, um dadurch einen höheren Status für sein Team und seine Schule zu erlangen. Und der gutherzige Lehrer Sanae Kikukawa hat zwar keine Ahnung von Baseball, unterstützt seine Schützlinge dennoch bestmöglich bei der Erfüllung ihres Traums einer Kōshien-Teilnahme. Kikukawa verkörpert auch die Mehrzahl der Betreuer*innen bzw. Trainer *innen von Schulsportclubs. Denn viele verfügen über keine spezifische Trainerausbildung und haben auch keine Erfahrung in der Sportart. Dafür fühlen sie sich umso mehr für die moralische Erziehung der Schüler*innen verantwortlich – sie fungieren sozusagen als Lebenstrainer*innen.

Auch Kataoka bemüht sich um das moralische Wachstum seiner jugendlichen Athleten, und erläutert Todoroki in einem Gespräch seine Ansichten: „Entscheidend ist, wie sich die Spieler als Mensch entwickeln. Das ist das Wichtigste, worauf wir als Trainer achten sollten.“

Die zehn Trainer geben einen spannenden Einblick in das Schulsportsystem Japans, mit all seinen Komplexitäten, Stärken und Schwachstellen, Normen und Werten. Schaut man also etwas genauer und wagt dabei einen Blick über den Tellerrand der fiktiven Animewelt, dann erzählen uns die Trainer in Ace of the Diamond tatsächlich so einiges über Japan.

Bildmaterial ©Yūji Terajima, Kodansha,
[Ace of Diamond] Production Committee, TV TOKYO

Pressetext (verfasst im November 2022):

Was haben Bushido, Baseball, Schullehrer und Anime gemeinsam? So einiges!
Beim Begriff Bushido (auf Japanisch bushidō, übersetzt der „Weg des Kriegers“) denken wir zuallererst an Samurai. Die Ideologie des Bushido ist im Westen vor allem durch das gleichnamige Buch von Nitobe Inazō bekannt geworden. Ihm zufolge verkörpert der Samurai Werte wie Loyalität, Aufopferungsbereitschaft und bedingungslose Hingabe. Obwohl es sich dabei um eine romantisch-verklärte Darstellung der damaligen Kriegerelite handelt, hat dieses Bild sowohl im Westen als auch in Japan Fuß gefasst und wurde auch auf den Sport übertragen, insbesondere auf Baseball. Nicht umsonst heißt die japanische Baseball Nationalmannschaft „Samurai Japan“. Aber wie kam es dazu?

Baseball gilt heute als japanischer Nationalsport. Er wurde 1872/73, nach der Landesöffnung in der Meiji-Zeit, von amerikanischen Lehrkräften nach Japan gebracht und an den damaligen Eliteschulen gespielt. Die Jugendlichen, die dort zur Schule gingen, waren Nachfahren ehemaliger Samurai und übertrugen deren Ideologie auf ihr Baseball-Spiel. Die Ausübung dieses Sports wurde dadurch mit diesen ‚traditionellen‘ Werten versehen. Im Laufe der Zeit formten sich aus den Sportclubs der Eliteschulen die heutigen extracurriculären Schulsportclubs (undō bukatsudō); die Werte der Samurai blieben in ihnen erhalten. Undō bukatsudō ist ein Konzept der Sportausübung, das es in Österreich so nicht gibt, denn diese Sportclubs sind keine privaten Vereine, sondern direkt an eine Schule gebunden. Das heißt, dass Trainings und Wettkämpfe an der jeweiligen Schule und zusätzlich zum regulären Sportunterricht stattfinden. Das Training wird jedoch häufig nicht von speziell ausgebildeten Trainer*innen durchgeführt, sondern von engagierten Lehrkräften organisiert. Dabei geht es in diesen Schulsportclubs nicht nur um die Ausübung des Sports, sondern um ein „Lernen fürs Leben“. Die Betreuer*innen der bukatsudō sind somit auch „Lebenstrainer“, da sie den jungen Sportler*innen Verantwortungsbewusstsein, Anstand und andere für das Erwachsenenleben wichtige moralische Werte mit auf den Weg geben. 

Auch die Trainer*innen, die in Sportanime dargestellt werden, vermitteln durch ihre Charakterzüge und durch ihr Verhalten bestimmte gesellschaftliche Werte. Diese sind allerdings nicht nur an die Sportler*innen in der fiktiven Animewelt gerichtet, sondern auch an die jugendlichen Zuseher*innen. Sieht man sich die Darstellung der Figuren und ihr Verhalten genauer an, und bezieht dabei auch die dahinterliegenden kulturellen Aspekte mit ein, verrät ein Anime so einiges über die japanische Kultur, Gesellschaft und deren Wandel. 

Interessant ist, dass Baseball in den Sportanime die am häufigsten dargestellte Sportart ist; der Anime Ace of the Diamond ist einer davon. In meiner Bachelor-Arbeit habe ich die zehn darin vorkommenden Trainer genau unter die Lupe genommen und dabei herausgefunden, wie eng Bushido, Baseball und Schulsport zusammenhängen und was das über japanische Normen und Werte und deren Wandel aussagt.

Manga und Anime – Die Jugend im Visier der japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte

Die Werbemittel der JSDF – Ein „cooles“ Militär?

Die japanischen Selbstverteidigungskräfte JSDF nutzen seit über fünfzehn Jahren die Medien der Populärkultur (Manga und Anime) zu Informations- und Rekrutierungszwecken, die Kinder und Jugendliche als Zielpublikum haben. Neben einem jährlich erscheinenden Manga existiert auch ein kurzer Anime. Die gezeigten Inhalte setzen stark auf den üblichen Niedlichkeitsfaktor (kawaii), der mit Manga und Anime assoziiert wird, um militärische Inhalte zu erklären und auch um mögliche Bedrohungen für Land und Gesellschaft darzustellen. In Japan kommen die Medien in der Jugend offensichtlich gut an. Welche versteckten Botschaften hinter den bunten Bildern zu finden sind, und was das für die Zukunft der JSDF bedeutet, versuche ich im folgenden Artikel offenzulegen.

©Japanisches Verteidigungsministerium

Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg und der damit einhergehenden Verfassung von 1946 verzichtete die japanische Regierung auf das Recht Krieg zu führen. Das Militär wurde aufgelöst und verlor den fanatisch glorifizierten Stellenwert in der Bevölkerung, die laut den Historikern Maki und Nakamura als eine der militarisiertesten Gesellschaften des frühen 20. Jahrhunderts anzusehen war. Spätestens mit der Niederlage 1945 sowie der neuen, bis heute, gültigen Verfassung, sollte jeglichem Militarismus das Handwerk gelegt werden. Das neue Japan, eine deklariert pazifistische Nation. Doch 70 Jahre später scheint sich einiges verändert zu haben.

©Japanisches Verteidigungsministerium

Landesverteidigung im Taschenbuchformat

Jetpiloten, die alarmbedingt zu ihren Maschinen stürmen, Fallschirmjäger, die sich für ihren Absprung bereitmachen, sowie Raketen, die von einem Kriegsschiff abgefeuert werden – all dies bei lachenden Gesichtern und leuchtenden Kinderaugen. Wen dies verwundert, der muss nur nach Japan schauen; dort gehört ein solches Szenario zum Alltag: Kinder, die sich mit Begeisterung bunten Büchlein widmen, in denen es um Thematiken für Erwachsene geht. Dieser auf den ersten Blick widersprüchliche Anblick wird jedes Jahr aufs Neue vom japanischen Verteidigungsministerium ermöglicht. Unter dem Titel bōeihakushō erscheint seit dem Jahr 2006 eine jährliche Ausgabe des gleichnamigen Manga. Illustrationen, Effekte, Charaktere sowie eine Story: In ihrem Auftreten stehen die Werke über die JSDF (Japanese Self Defense Forces) in keiner Weise ihren „nicht militärischen“ Kollegen aus der Unterhaltungsindustrie nach. Doch kann man diese Publikationen miteinander vergleichen? Und wozu produziert ein Ministerium diese überhaupt?

©Japanisches Verteidigungsministerium

Die japanischen „Supermen & Superwomen“

Auf den ersten Blick unterscheidet sich die Mangaserie bōeihakushō nicht von anderen Werken der japanischen Populärkultur. Während bei herkömmlichen Werken der Populärkultur vor allem kommerzielle Interessen im Vordergrund stehen, haben die bōeihakushō eine ganz andere Intention. Doch welchen Zweck verfolgen diese Manga? Neben dem offensichtlichen Zweck der PR-Arbeit lassen sich aber noch andere, weit subtilere Absichten des JVM (Japanisches Verteidigungsministerium) in Design und Publikation der bōeihakushō ausmachen. In jeder Ausgabe steht ein militärisches Thema im Mittelpunkt, welches behandelt wird. Zunächst einmal können die Manga als genau das bezeichnet werden, was sie sind: Manga. Als Medien der Populärkultur sollen sie unterhalten und spannend sein. Wie diese Spannung erzeugt wird, folgt einem ähnlichen Schema wie bei Superman & Co.: Ein Gefahrenszenario tritt auf, welches dann durch das Wirken eines Superhelden entschärft wird. Dieses Muster zieht sich durch die gesamte Serie der bōeihakushō, wobei die JSDF wenig überraschend die Rolle des Superhelden einnehmen. Übermächtig, zu allem fähig und herzensgut – so zeigen sich die JSDF. Die Angehörigen des Militärs als Halbgötter in Grün, denen man zujubelt – so zumindest in den Manga. Und so wie es oft bei Superhelden der Fall ist, existieren auch die „Bösewichte“.

Mein Feind der Nachbar

Die Umsetzung des genannten Schemas ist in zweierlei Hinsicht interessant. Zum einen, werden die Bedrohungen niemals direkt angesprochen, sondern allgemeingehalten. Die Gefahr unbekannter Flugzeuge, die in den japanischen Luftraum eindringen würden, oder Schiffe ohne Landesfahne, die bedrohlich am Horizont erscheinen. Was zunächst als neutral und objektiv in der Benennung von Gefahren erscheint, lässt auf den zweiten Blick einige subtile Botschaften erkennen. Wenn von Gefahren die Rede ist, erscheint an mancher Stelle ein Globus, auf dem die VR China zu sehen ist. Die bedrohlichen Jets, welche in den Luftraum eindringen, ähneln in ihrer Darstellung dem russischen Modell SU-33, und dringen von Nordwest in den japanischen Luftraum ein. Der Subtext ist klar. Geschickt werden die Bedrohungs- und Feindbilder gezeigt, ohne sie beim Namen zu nennen. So werden Länder wie die Volksrepublik China, Nordkorea oder Russland niemals beim Namen genannt oder gezeigt. Im Gegensatz dazu zeichnen die Manga jedoch ein recht genaues Bild der tatsächlichen Gefahren mit klarem Bezug zu realen Ereignissen. Die Grenzstreitigkeiten zwischen Japan und China mit oftmals brenzligen Schiffskonfrontationen schlagen sich hier ebenso nieder, wie die Gefahr des nordkoreanischen Raketenprogrammes. Insbesondere seit dem ersten Überflug Japans durch eine nordkoreanische Rakete im Jahr 2017 wird dies als größte Gefahr für das Land thematisiert. Ballistische Raketen, die sich auf Karten stets aus Richtung Festland den japanischen Inseln nähern. Ganz im Stil: don’t tell – show.

Das Bild des weiblichen Samurais

Wer sich vor den oben genannten Bedrohungen fürchtet, muss nur einen Blick in den Manga aus dem Jahr 2019 werfen. Das Sujet: Die wichtige Rolle von Frauen im japanischen Militär. Hier steht zum ersten Mal eine Frau als Protagonistin im Fokus des Manga. Als Schülerin in der Oberstufe möchte sie dem Beispiel ihres großen Bruders folgen, Japan vor feindlichen Angriffen zu beschützen, und den JSDF beitreten. Auch hier lässt sich hinter dem oberflächlich als progressiv und erbaulich gestalteten Inhalt ein subtiler Kommentar von Rollenbildern feststellen. Soldatinnen treten stets in eher inaktiven, passiven Rollen innerhalb von Gebäuden auf, während die Männer aktiv an der frischen Luft agieren. Weiters zieht sich das Motiv des „großen Bruders“ quer durch die Ausgabe. Die kleine Schwester ist oftmals unentschlossen, bis ihr der große Bruder den Weg zeigt. Schließlich findet unsere Heldin einen Platz an einem Schreibtisch in der Abteilung für Raketenabwehr und Cyberkriminalität – ihr Bruder hingegen wird/ist Offizier in der Armee. Auch wenn Kinder die oben genannten Punkte noch nicht verstehen können, so bleibt ihnen wohl die subtile Botschaft indirekt im Gedächtnis. Bestehende traditionelle Konzepte werden verstärkt. Am Beispiel von Genderrollen ist die freie Entfaltung sowie Selbstinterpretation der eigenen Rolle im militärischen Kontext eine eher vorgegebene. Frauen werden in den JSDF wertgeschätzt sowie in ihrer Karrierewahl gefördert – sofern diese traditionellen Rollen entspricht. Abweichungen davon existieren keine. Kindern wird so vermittelt, welches Verhalten wünschenswert ist, sowie suggeriert, vor welcher Himmelsrichtung man sich zu fürchten habe.

Die Sendung mit dem Vogel – Militär einfach erklärt

Artikel 9 der japanischen Verfassung ächtet den Krieg als solchen und die Anwendung von Waffen überhaupt. Dadurch soll die Verwendung von Gewalt durch den Staat nach außen schon im Vorhinein unmöglich gemacht werden. Konkret:

(1) Im aufrichtigen Streben nach einem auf Gerechtigkeit und Ordnung gegründeten internationalen Frieden verzichtet das japanische Volk für immer auf den Krieg als ein souveränes Recht der Nation und auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt als Mittel, internationale Streitigkeiten zu regeln.

(2) Um das im vorangehenden Absatz bezeichnete Ziel zu erreichen, werden niemals mehr Land-, See- und Luftstreitkräfte sowie andere Mittel zur Kriegsführung unterhalten werden. Das Recht des Staates auf Kriegführung wird nicht anerkannt.

Nach der vorherrschenden japanischen Rechtsmeinung ist die Selbstverteidigung von diesem Verbot nicht ausgeschlossen. Gewalt und sogar Krieg sind in der Form der Selbstverteidigung zulässig. Dafür wird aber auch ein ausführender Körper benötigt: Die JSDF…

Siehe Anmerkung am Beitragsende*

Seit dem Jahr 2015 erscheinen auch in unregelmäßigen Abständen Videos im Anime-Format. Als erster, und bekanntester Vertreter gilt das Video „ボーエもんの防衛だもん~よくわかる自衛隊 (zu Deutsch: Bo-Emons Verteidigungslektion – Das ABC der Selbstverteidigungs-

kräfte). Ähnlich dem bekannten deutschen Fernsehformat „Die Sendung mit der Maus“ erklärt der Vogelroboter den Kindern, wie Landesverteidigung funktioniert. Dies erfolgt am Beispiel von Abfangjägern, die jedes Flugzeug daran hindern könnten, in den japanischen Luftraum einzudringen, und dies auch mit Gewalt. Nach einer kurzen Erklärung der jeweiligen Teilstreitkräfte bezieht sich Bo-Emon auf die verschiedenen „anonymisierten“ Bedrohungen, die Japan betreffen könnten, und benennt zu jeder die sofortige Bekämpfung und Lösung durch die JSDF. Diese fällt in allen Fällen militärisch aus. Ein interessanter Umstand, da Japan eigentlich als pazifistische Nation auf Gewalt zur Konfliktbeilegung verzichtet hat – mit Ausnahme der JSDF zur Selbstverteidigung. Dennoch lässt sich recht wenig von einer propagiert pazifistischen Haltung in Bo-Emons Lektion wiederfinden. Die Anwendung von Gewalt als zulässiges Mittel wird weder hinterfragt noch in einem negativen Licht dargestellt. Eher projizieren die Werkzeuge des Krieges wie Panzer, Kriegsschiffe und Kampfjets ein fast Ehrfurcht erweckendes Gefühl bei den Kindern. Bo-Emon steht hier für eine absolute Autorität, die alles zu wissen scheint, und auf dessen Stimme man besser hören sollte.

Am besten mit derselben Euphorie wie im folgendem Abschnitt:

Die Rekruten von morgen?

Die Publikationen über die JSDF lassen sich schwer unter einen Hut bringen mit vergleichbaren Werken der Populärkultur sowie anderen Aussendungen von Regierungsbehörden. Klar ist, dass sie als Anwerbematerial verstanden werden können. Geschickt wird sich jener Medien bedient, mit welchen sich Kinder und Jugendliche ohnehin auseinandersetzen. Manga und Anime sind hier einzigartig in ihrem Effekt: Man erreicht die Zielgruppe in ihrer Freizeit durch Unterhaltung. Anders gesagt, die Kinder setzen sich gerne mit den bōeihakushō auseinander – sie machen Spaß. Die Hauptbotschaft ist dabei eindeutig: Wer Japan schützen möchte, geht zur JSDF! Die Herausgeber im JVM nehmen dabei – willentlich oder nicht – in Kauf, dass Inhalte wie Feindbilder, ein überholtes, konservatives Rollenverständnis der Geschlechter sowie eine glorifizierte Darstellung von militärischer Macht (siehe Bild unten) kommuniziert werden. Offizielle Zahlen hinsichtlich der Wirkung des „cool military“ lassen sich freilich nur schwer ausmachen. Da die Mitgliederzahl der JSDF (rund 150.000) trotz überalterter Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten konstant geblieben ist, kann man annehmen, dass die martialischen Büchlein und Filme rund um Vogelroboter „Boemon“ ihren Teil dazu beigetragen haben. Übrigens: Wen nun die Leselust gepackt haben sollte, die Anime und Manga sind sowohl in japanischer als auch englischer Sprache auf der Webseite des japanischen Verteidigungsministeriums verfügbar.

©Japanisches Verteidigungsministerium

*Über den letzten Absatz im Info-Kasten konnte kein Konsens zwischen Autor und Teamleiterin hergestellt werden. Judith Brandner legt Wert auf folgende Kontextualisierung:
Japans Heer definiert sich als Selbstverteidigungstruppe, JSDF. 2016 sind unter der rechtskonservativen Regierung Abe neue Sicherheitsgesetze in Kraft getreten, die Japan das Recht auf „kollektive Selbstverteidigung“ einräumen. Demnach dürfen die JSDF mobilisiert und ins Ausland geschickt werden, um einen Verbündeten (die USA) zu verteidigen, oder Länder anzugreifen, die Japans Sicherheit gefährden würden. Verfassungsrechtler*innen sehen darin eine Aushöhlung von Artikel 9.

Pressetext (verfasst im November 2022):

Japan ist in vielfacher Hinsicht ein Sonderfall, wenn es um militärische Angelegenheiten geht. Auf der einen Seite stehen das in der Verfassung verankerte Verbot des Krieges, das eindeutige Bekenntnis zu Pazifismus sowie eine tiefe Ablehnung militaristischer Tendenzen. Offiziell werden keine Streitkräfte unterhalten; Proteste gegen die Errichtung oder Unterhaltung von ausländischen (sowie japanischen) Militärbasen werden immer wieder laut. Auf der anderen Seite ist die japanische Populärkultur voll von Militärdarstellungen: Schulmädchen, die in dem Anime Girls und Panzer (jap. gāruzu ando pantsā ガールズ&パンツァー) in lustiger Manier Panzerschlachten austragen, oder junge Soldaten, die Japan mit modernen Waffen vor mittelalterlichen Drachen beschützen. Was die beiden gemeinsam haben? Sie bedienen sich stark militärischer Thematiken, sie sind Vertreter der japanischen Populärkultur – und sie sind beide beliebt. Viele von uns haben sie schon einmal gesehen: Niedliche Gestalten mit bunten Frisuren, großen Augen und nettem Auftreten. Die weltweit bekannten Zeichenstile, die in den japanischen Comics (Manga) sowie Videoproduktionen (Anime) Anwendung finden. Ob in Österreich oder in Japan, viele Kinder und Jugendliche erfreuen sich an den Medien der japanischen Populärkultur. Eben jene Beliebtheit ist es, die sich auch Behörden zu Nutze machen. Ob Warnschilder bei U-Bahnen, Gebrauchsanleitungen für technische Geräte sowie öffentliche Aussendungen von Regierungsbehörden – Manga in Japan sind keineswegs nur (etwas) für Kinder. Das japanische Militär (JSDF) setzt hierbei seit Jahrzehnten auf die beliebten Comics als Mittel der Selbstdarstellung und Präsentation gegenüber der japanischen Jugend. Und dies durchaus mit breitem Arsenal – neben einem jährlich erscheinenden Manga (manga de yomu bōeihakushō まんがで読む防衛白書) existiert auch ein eigens vom Verteidigungsministerium produzierter Anime-Kurzfilm. Ganz dem Zielpublikum entsprechend, werden die Rollen und Aufgaben der JSDF von dem kugelrunden Vogelroboter „Bo-emon“ in kindgerechter, einfacher Sprache vermittelt. Doch auch ernstere Themen werden in den Publikationen zur Sprache gebracht. Bedrohungen von außen werden geschickt durch Symbolik verschleiert. Tatsächliche Gefahren (und für Japan „gefährliche Länder“) werden dabei selbst nie benannt. Den Kindern wird vielmehr durch Suggestionen ein Eindruck davon vermittelt, wovor man sich zu fürchten habe. Wo dieser Suggestivstil an die Grenzen stößt, wird sich einer niedlich-autoritären Vogelfigur bedient, die auf jede Frage eine Antwort parat hat. Insbesondere Genderaspekte spielen in der populärkulturellen Darstellung der JSDF eine wichtige Rolle. Letztlich stehen neben den informativen Aspekten selbstverständlich auch Rekrutierungsabsichten. Absichten, die erst auf den zweiten Blick ersichtlich sind. Die Werke des japanischen Verteidigungsministeriums bedienen sich der Optik und des Formats eines Manga, um Kindern den Militärdienst schmackhaft zu machen. Sensible Themen, wie die Frage um die eigene Semi-Illegalität werden durch glorreiche Machtdarstellungen von militärischen Gerätschaften übertönt. Feindbilder wie die VR China oder Russland werden weder gezeigt noch benannt, doch durch gezielte Anspielungen stets unterschwellig kommuniziert. Und auch die Progressivität hinsichtlich der Geschlechterrollen kann in Frage gestellt werden. Wie und auf welche Art und Weise dies alles funktioniert, habe ich in meiner Forschung untersucht.

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